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Tierversuche: Utilitarismus für Tiere, Kantianismus für Menschen

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Tierversuche: Utilitarismus für Tiere, Kantianismus für Menschen

Autor: martin | Datum:
In der Wissenschaftszeitschrift "Gehirn und Geist" ist ein Streitgespräch über die ethische Zulässigkeit von Tierversuchen zu lesen, das sich über dem üblichen Niveau befindet und sich daher eine Betrachtung lohnt. Es diskutieren (pro) Wolf Singer vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung und (contra) Klaus Peter Rippe von der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Hier kommentierte Auszüge (aus: http://www.wissenschaft-online.de/artikel/1053452).

Man sieht, dass (Wolf) Singer (Peter) Singer gelesen hat (jedenfalls genauso utilitaristisch denkt).
Zitat: Für mich reduziert sich das Problem auf die Beurteilung der Leidensfähigkeit. Hier besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Mensch und Tier. Zum Beispiel sind Tiere nicht in der Lage, ihren eigenen Tod zu antizipieren, weil ihnen bestimmte Frontalhirnstrukturen fehlen. Sie begreifen ihr Leben nicht als endlich. Dazu kommt ein sozialer Aspekt: Die speziell für Laborversuche gezüchteten Tiere wachsen in Forschungsinstituten auf – ihnen fehlt die Sozialisierung in einem Rudel oder einer Herde. Wenn solch ein Tier stirbt, gibt es in der Zuchtkolonie keine Trauer. Deshalb glaube ich: Wenn ich das Leben einer Ratte opfere, erzeuge ich weniger Leid, als wenn ich die Suche nach den Ursachen bislang unheilbarer Krankheiten einfach unterlassen würde. Wir müssen einen Kompromiss finden, bei dem Kosten und Nutzen in einem möglichst ausgewogenen Verhältnis stehen.

Darauf Rippe:
Zitat: Die Argumente, die eindeutig dafür sprechen, gelten heute nicht mehr. Wir Menschen haben keine moralische Sonderstellung, etwa weil wir Gottes Ebenbild wären – oder weil wir durch unsere Vernunft einen absoluten Wert besäßen. Da sich Mensch und Tier nicht kategorial unterscheiden, sind Kosten-Nutzen-Abwägungen ethisch nicht haltbar.

Die Antwort hätte genauer ausfallen können, aber im Grunde hat er Recht. Man könnte es auch so formulieren: Auch wenn nichtmenschliche Tieren ihr Leben nur als endlich begreifen, ist das noch keine Rechtfertigung sie in ihren fundamentalen Interessen anders als Menschen zu behandeln. Was Singer hier beantworten müsste: Würde er Menschen, bei denen (aufgrund einer Behinderung, eines Unfalls usw.) diese Frontalhirnstrukturen beschädigt sind und die nur im Jetzt leben (das trifft zeitweise auf Menschen, die an einer Form von globaler Amnesie leiden, zu) auch das Recht auf Leben absprechen? Sicherlich nicht und alle anderen Menschen würden das auch nicht tun, weil der Besitz von Zukunftsbewusstsein schlicht kein ethisch relevantes Kriterium ist.
Für das zweite Argument gilt das gleiche: Selbst wenn die Tiere nicht oder kaum sozialisiert sind, ist das eine schlechte Rechtfertigung. Nur weil "es keine Trauer gibt", wenn (schlecht integrierte) Waisenkinder sterben, würde auch das wohl kaum als Rechtfertigung für ihre Verwendung in tödlichen Versuchen akzeptiert werden. Abgesehen davon, dass Singer sich hier widerspricht. Wenn er für Leidensfähigkeit (die individuell ist) plädiert, sollten sozialen Aspekte irrelevant sein.

Auch das letzte Argument kann die Verwendung von nichtmenschlichen Tieren (aber nicht Menschen) in Tierversuchen nicht begründen: "Wenn ich das Leben einer Ratte opfere, erzeuge ich weniger Leid, als wenn ich die Suche nach den Ursachen bislang unheilbarer Krankheiten einfach unterlassen würde." - Wenn man das Leben von ein paar Hundert Menschen opfert, würde man weniger Leid erzeugen, als wenn man sie für Heilmittel gegen Krankheiten wie AIDS oder Malaria einsetzen würde, an denen Millionen Menschen leiden. Sinnvoll wäre es ohnehin, da man hier mit Tierversuchen bisher kaum weiterkommt, mit Menschenversuchen aber deutliche Fortschritte machen würde. Trotzdem ist es untersagt, weil die meisten Menschen eben nicht utilitaristisch denken, sondern Menschen das Grundrecht haben, nicht gegen ihren Willen als Mittel zum Zweck gebraucht zu werden.

Auf die weitere Argumentation von Rippe:
Zitat: Nur in einer echten Dilemma-Situation sind Güterabwägungen unvermeidlich: Entweder stirbt das eine Lebewesen oder das andere – es besteht keine Chance, beide zu retten. Oft instrumentalisieren wir Lebewesen aber nach dem Motto: Ich füge einer Kreatur Leid zu, um aus meiner Sicht möglicherweise ein positives Ziel zu erreichen.

antwortet Singer:
Zitat: Das machen wir doch in der Rechtsprechung andauernd. Wir sperren Triebtäter weg, um größeres Leid zu vermeiden, und fügen ihnen somit Leid zu, indem wir ihre Freiheit beschränken. Wir handeln also sogar innerhalb unserer eigenen Spezies genau so, wie Sie es kritisieren.

Diese Auffassung von Justiz ist - gelinde gesagt - etwas fragwürdig. Die Bestrafung von Straftätern ist keine Kosten-Nutzen-Abwägung, sondern eine Bestrafung wegen des durch die Person verursachten Schadens. So muss man sich bei dieser Analogie fragen: was haben die Mäuse den krebskranken Menschen getan und was die Affen den HIV-Positiven? Die Rechtssprechung folgt vielmehr genau dem, was Rippe sagt: es gibt ein Instrumentalisierungsverbot. Unschuldige/Unbeteiligte dürfen nicht gegen ihren Willen zum größeren Nutzen anderer missbraucht werden. Deshalb wurde es in Deutschland vom Verfassungsgericht auch untersagt, dass entführte Flugzeuge abgeschossen werden dürfen, selbst wenn dadurch weniger Menschen sterben würden, als wenn es noch zusätzlich in irgendein Gebäude fliegt. Denn so würde man die Passagiere als Mittel zum zweck gebrauchen und das ist in unserem zum Glück nicht utilitaristischen Rechtsverständnis nicht erlaubt.

Unfreiwillig zutreffend ist Singers folgender Vergleich über die "Dressur" der Versuchsaffen:
Zitat: Nein, das ist wie jede Art von Dressur. Wenn Sie in einen Delfinpark gehen, machen die Tiere ihre Salti auch nicht aus Jux und Tollerei. Noch dazu werden sie nur zur Unterhaltung der Zuschauer dazu motiviert. Nach jedem gelungenen Salto bekommt der Delfin einen Fisch. Nichts anderes tun wir: Unsere Tiere erhalten eine Belohnung, dursten müssen sie deshalb nicht.

Natürlich ist beides genauso falsch und natürlich macht ein Unrecht ein anderes Unrecht nicht besser.

Auf die Frage nach der anthropologischen Differenz (also dem, was den Menschen grundsätzlich von anderen Tieren unterscheidet), hat Singer diese Theorie:
Zitat: Ein Alleinstellungsmerkmal kennzeichnet uns allerdings: Die Fähigkeit, an Götter zu glauben und moralisch zu handeln. Meiner Meinung nach ist das ein kategorialer Unterschied. Der Mensch ist ein Kulturwesen – Bonobos bauen eben keine Kathedralen.

Abgesehen davon, dass der Besitz von Religion eher gegen die Menschen spricht, ist die Antwort hierauf - wie so oft - erstens falsch, zweitens irrelevant. Gerade bei Affen ist der Besitz von Kultur nachgewiesen ist und selbst wenn es nicht so wäre, rechtfertigte das immer noch keine fundamental unterschiedliche ethische Behandlung.
So auch Rippe:
Zitat: Aber gibt uns allein der Umstand, dass wir Kulturwesen sind, einen höheren Wert? Der Mensch pflegt Traditionen und besitzt eine abstrakte Sprache – und konnte sich so aus bestimmten Naturzwängen lösen. Aber es fällt mir schwer, an dieser Stelle einen Wertunterschied auszumachen, schon gar keinen kategorialen.

Nachdem Rippe es ihm nochmals zu erklären versucht hat, antwortet Singer weitsichtig (aber ihm wohl immer noch unbegreiflich):
Zitat: Singer: Dann dürften wir auch keine Nutztiere halten.
Rippe: Das wäre die logische Konsequenz.
Singer: [...] Wir dürften kein Fleisch mehr verzehren, keine Lederschuhe mehr produzieren. Stadtverwaltungen müssten aufhören, im Rahmen der Schädlingsbekämpfung jährlich zigtausende Ratten mit Gerinnungshemmern zu vernichten.

Man freut sich über so viel Einsicht, allerdings kommen dann auch gleich die Strohmannargumente. Einmal: "Dann müsste ab sofort jede pharmakologische Entwicklung stillstehen.", was unterstellt, dass ohne Tierversuche gar keine Entwicklung mehr möglich sei, was falsch ist. Und einmal: "Wenn ethisch kein Unterschied mehr gemacht werden darf, müssen wir die Folgen zu Ende denken.", was wiederum die Gleichheitsunterstellung ist. Natürlich gibt es auch innerhalb der Tierrechte immernoch Unterschiede in der ethischen Berücksichtigung von Menschen und anderen Tieren, genauso wie es auch innerhalb der Menschenrechte Unterschiede innerhalb der Menschen gibt.

Singer gerät dann leicht in Verzweiflung, was seine Argumentation nicht besser werden lässt:
Zitat: Ich verstehe nicht, wieso Sie keinen kategorialen Unterschied zwischen Mensch und Tier erkennen können. Dass wir überhaupt ethische Überlegungen anstellen, dass wir unsere Toten begraben und Treueschwüre eingehen – genügt das nicht bereits?

Rippe: "Aber aus den zugegeben einzigartigen empirischen Fähigkeiten des Menschen folgt keine moralische Sonderstellung." Dazu versucht es Singer nochmals mit der Moralität:
Zitat: Die Moral an sich ist bereits ein Kulturprodukt. Die Tatsache, dass wir moralisch handeln können, kennzeichnet uns allein.

Und wieder: erstens falsch, zweitens irrelevant. Falsch, weil bei vielen Tieren eine Proto-Moral vermutet wird (schon aufgrund der Tatsache, dass ethisches Urteilen angeboren ist in Verbindung damit, dass es eine evolutionäre Kontinuität gibt). Irrelevant, weil auch Kleinkinder und manche geistig Behinderte Moral nicht verstehen und keine moralischen Entscheidungen treffen können und deshalb noch lange nicht in tödlichen Experimente eingesetzt werden dürfen.

Auf die Unsinnigkeit dieser Denkweise hingewiesen, kommt Singer schließlich zu:
Zitat: Rippe: [...] »Wir bauen Kathedralen« ist lediglich eine empirische These – was wir vielmehr brauchen, ist ein Werturteil. Oder könnten wir sagen: »Weil wir Kathedralen bauen, dürfen wir Primaten töten, die dies nicht tun«? Und vor allem: Ich selbst kann keine Kathedralen bauen, bin ich damit weniger wert als jene, die es können?
Singer: Das sage ich nicht. Ich würde es eher so formulieren: Weil wir denkende Wesen sind, tragen wir die Verantwortung dafür, das Leid auf dieser Welt so weit wie möglich zu minimieren und eine Kompromisslösung – für Tier und Mensch – zu finden.

Und damit dreht sich Singer im Kreis. Seine These funktioniert nur unter der Voraussetzung, dass man die speziesistisch-utilitaristische Haltung bereits aktzeptiert hat und Menschenleben mit anderem Tierleben aufwiegt (wohlgemerkt aber nicht auch andersherum). Um das zu aktzeptieren, braucht man jedoch eine ethische Begründung, die hier der Utilitarismus selbst ist - womit Singers Argument zu einem Zirkelschluss geworden ist.

Man hat es schon fast vermisst, dann kommt es aber noch: das vermeintliche Dilemma-Szenario.
Zitat: Ich habe einmal mit Tierschützern folgendes Gedankenexperiment durchgespielt: Sie stehen auf der Frankfurter Mainbrücke und sehen, wie ein Mann und sein Hund ins Wasser fallen. Beide kämpfen um ihr Leben. Was tun Sie? Ein Tierschützer sagte darauf: »Ich würde das Leben retten, das mir räumlich am nächsten ist, denn hier ist die Chance zu retten am größten. Wenn der Hund näher ist, hole ich ihn zuerst raus.« Als ich fragte, was wäre, wenn der Mensch dann stürbe, antwortete er: »Leben ist gleichwertig.« An diesem Punkt war für mich die Diskussion nicht mehr möglich – ich würde in jedem Fall den Menschen zuerst retten.

wen man in einem Dilemma (d.h. einer Ausnahmesituation) rettet, sagt nichts über das richtige oder falsche Verhalten in Nicht-Ausnahmesituationen aus. wenn es nicht ein Hund, sondern das eigene und ein fremdes Kind wäre und man das eigene rettet, statt das fremde, heißt es noch nicht, dass man deshalb fremde Kinder in AIDS-Experimenten einsetzen darf. Und Tierversuche sind, wie Rippe weiter oben bereits sagte, keine Dilemma-Situationen.

Singers wieder einmal utilitaristische Rechtfertigung:
Zitat: Einfach weil ich weiß, dass dieser Mensch wahrscheinlich ein großes Umfeld von Trauernden hinterließe, während der Hund außer dem Mann möglicherweiseüberhaupt niemanden hat, der sich um ihn kümmert.

führt Rippe entsprechend ad absurdum:
Zitat: Wenn zwei Menschen vor dem Ertrinken stünden, würde ich auch nicht sagen, retten wir lieber denjenigen mit der größeren Familie als den eigenbrötlerischen Junggesellen.

Wie gesagt: unser Gesetz ist zum Glück nicht utilitaristisch. Der Mörder einer kinderlosen Person bekommt keine geringere Strafe als der Mörder einer Mutter oder eines Vaters, weil Menschenleben unabhängig ihres sozialen Umfelds gleichwertig sind.

Daraufhin versucht es Singer mit Schuldzuschiebung:
Zitat: Dann würde mich eins interessieren: Fast die gesamte Technik der Transplantationsmedizin beruht auf Ergebnissen aus Tierversuchen, das Gleiche gilt für Antibiotika und noch viele andere Medikamente. Müssten Sie die folglich verweigern, wenn Sie sie als Patient eigentlich bräuchten?

Wie auch Rippe antwortet: die Nutzung von Dingen, die auf ethisch abzulehnende Praktiken zurückgehen, bedeutet nicht die Sanktionierung dieser Praktiken. Wenn man auf den Strßaen der Südstaaten der USA fährt, heißt das nicht, dass man Sklaverei befürwortet, obwohl diese Straßen tlw. von Sklaven gebaut wurden, oder wenn man sich antike Bauwerke ansieht, dass die auf sie zurückgehende Sklavenarbeit damit auch heute gutgehießen werden muss.

Reichlich absurd wird es am Ende, wenn Singer bei einem Ende der Tierversuche unterstellt:
Zitat: Der Aberglaube würde wachsen. Die Wunderheiler hätten Zulauf, die Handaufleger, die Krebsbeschwichtiger. In so einer Welt möchte ich nicht leben.

Warum die Ersetzung der zum größten Teil unwissenschaftlichen Tierversuche durch wissenschaftliche Methoden die Unwissenschaftlichkeit fördern sollte, bleibt unklar.

Das Schlusswort hat natürlich Singer: "Tun wir etwas, werden wir schuldig, tun wir nichts, werden wir auch schuldig.", was erneut unterstellt, ohne Tierversuche gäbe es keinen medizinischen Fortschritt. Wie schuldig machen sich eigentlich die Wissenschaftler und Politiker, die weiterhin an nicht-funktionierenden Versuchsmodellen aus Profit- oder Prestigegründen festhalten, anstatt wirksame Hilfe zu leisten?

Interessant ist auch, dass hier die Unterstellung, Tierversuchsgegner seien emotional und nicht objektiv, diesmal nicht aufkommt, sondern die Entwicklung in die Gegenrichtung geht und Singer seinerseits "auf die Tränendrüse drückt": "weil ich weiß, welches enorme Leid entsteht, wenn etwa eine junge Mutter an einem Ovalkarzinom erkrankt, Metastasen bekommt und kahlköpfig in ihrem Zimmer liegt, neben sich die weinenden Kinder." - Wenn dieser Strategiewechsel mal gut geht...

Die Diskussion zeigt nicht nur, dass Tierversuchsbefürworter ein großes Problem haben, zwischen Tierschutz (Utilitarismus) und Tierrechten (meistens Deontologie) zu unterscheiden und sich vom Speziesismus zu lösen (warum Menschen gegenüber anderen Tieren genauso wenig eine Sonderstellung einnehmen, wie Männern gegenüber Frauen, Farbige gegenüber Weisen etc.), sondern auch, dass sie die Heuchelei erkennen, wenn jemand nur Tierversuche ablehnt, aber nicht sonstige Formen der Tierausbeutung. Tierversuchsgegner ohne tierrechtlerisch-abolitionistischen Hintergrund sind daher argumentativ zum Scheitern verurteilt.