Anhänger einer russischen Sekte verbarrikadieren sich in einer Höhle
Von Irina Wolkowa, Moskau
Nikolskoje – ein Dorf im Gebiet Pensa, 500 km südöstlich von Moskau – kennt inzwischen jeder Russe. Dort haben sich 25 Erwachsene und vier Kinder – das jüngste, ein Mädchen, ist erst anderthalb Jahre alt – in einer selbstgegrabenen Höhle unter der Erde eingemauert, um dort auf den Weltuntergang zu warten. Der findet angeblich schon in allernächster Zukunft statt. Im Mai kommenden Jahres. Vom Gegenteil konnte sie bisher niemand überzeugen. Mehr noch: Sektenführer Pjotr Kusnezow drohte mit Sprengung, sollten Ordnungskräfte versuchen, das Verlies zu stürmen.
Das Statement lieferte der Möchtegern-Prophet in einer psychiatrischen Klink ab, wo er wegen Schizophrenie behandelt wird. Seine Drohungen, so Boris Kulagin, der für das Gebiet Pensa in der Duma sitzt, müssten dennoch »sehr ernst« genommen werden. Einige der Sektenmitglieder, sagte er hiesigen Medien, seien ehemalige Militärs und im Besitz von Waffen. Ihnen wird auch die Anlage der unterirdischen Festung und der »Verteidigungsplan« zugeschrieben. Wie der staatliche TV-Sender RTR berichtet, der sich in seinem Wochenrückblick am letzten Sonntag ausführlich mit dem Thema befasste, gibt es in der hufeisenförmig angelegten Festung mehrere zwei Meter hohe Zellen. Zwei davon dienen als Schlafräume – Männer und Frauen nächtigen getrennt – weitere als Küche, Vorratslager und Bethaus. Die Nahrung ist streng vegan, auch hatte Sektenführer Kusnezow seinen Schäflein noch auf der Oberwelt den Gebrauch von Strom, Telefon und heißem Wasser untersagt. Geld und Bildung verfluchte er ebenfalls als Todsünden.
Operative Mitarbeiter von Polizei und Geheimdiensten, die mit den Sektenmitgliedern gelegentlich über die Belüftungsschächte kommunizieren, sind inzwischen offenbar über Details der Anlage bestens unterrichtet und erwägen daher den Einsatz von Gas, um die Gemeinde kurzzeitig in Schlaf zu versetzen und das Fort dann zu stürmen. Das Vorhaben ist umstritten. Der Grund: 130 Menschen starben bei der Geiselbefreiung im Oktober 2002 in einem Moskauer Konzerthaus, wo ebenfalls Gas durch das Belüftungssystem geblasen wurde.
Zwar sind Sekten im postkommunistischen Russland nichts Neues. Tausende gingen falschen Propheten und ihren Endzeit-Szenarios gleich nach dem Ende der Sowjetunion auf den Leim, als Russland im Chaos zu versinken drohte. Dass die Sektenbewegung ausgerechnet jetzt, wo das Land als relativ stabil gilt, eine Renaissance erlebt, halten nachdenkliche Zeitgenossen jedoch für ein äußerst alarmierendes Signal. Die Mehrheit der Experten macht dafür Unsicherheit und Zukunftsangst verantwortlich. Zu Recht.
Wer nach den Wahlen in Russland das Sagen hat und wie die Macht dann konfiguriert sein wird, ist weiterhin unklar. Klar ist nur, dass Russland, wer immer im Kreml sitzt, der Wind außenpolitisch wie wirtschaftlich schärfer um die Ohren blasen wird.
Zumindest die Vorzeichen neuer Instabilität – Preisauftrieb und Inflation – sind bereits deutlich sichtbar. Dazu kommt, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche wenig soziale Kompetenz hat. Das eigentliche Leben findet aus Sicht der Popen im Jenseits statt, auf die brennenden Fragen im Diesseits bleiben sie daher die Antwort schuldig.
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