Von Michael Miersch
29. Mai 2009, 15:41 Uhr
Es gibt Pferde, Rinder, Schweine, Schafe, Ziegen, Wild und Fisch. Aber warum kommt kein anderes Tier so häufig auf den Tisch wie das Huhn? 17 Milliarden Hühner leben heute auf der Welt – sie werden gegrillt, gebacken, gebraten und gekocht. Die Menschheit hat dem fügsamen Federvieh wahrlich viel zu verdanken.
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In den Industrieländern kann sich heute jeder täglich ein Huhn im Topf leisten - "Dank" Aufzucht in industriellem Maßstab.
Nordeuropäer und Amerikaner essen keine Pferde, Hindus keine Rinder, Juden und Moslems keine Schweine. Fisch und Lamm finden viele Menschen widerlich, Wild erst recht. Muscheln, Meerschweinchen und andere Tiere werden nur von Minderheiten geschätzt. Nur ein einziges Wesen wird in aller Welt gegrillt, gebacken, gebraten und gekocht: das Huhn. Gebratenes Huhn und Hühnersuppe sind in China ebenso beliebt wie in Chile, bei Arabern wie bei Israelis, ja sogar Deutsche und Franzosen können sich darauf einigen. Huhn ist konsensfähiger als Fußball und Sex.
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17 Milliarden Hühner leben heute auf der Welt – die wenigsten davon allerdings nicht gerade lang. Ein typisch europäischer Broiler, der männlich oder weiblich sein kann, ist nach 33 Tagen schlachtreif. Doch auch wenn sein Dasein im Diesseits schnell vorüber ist, so ist das Huhn, biologisch betrachtet, dennoch der erfolgreichste Vogel der Welt. Denn die Währung der Evolution sind Nachkommen und die werden mit Hilfe des Menschen in einer Größenordnung ausgebrütet, die auch die häufigsten Wildvögel in den Schatten stellt. Und dies, obwohl ein Großteil der Eier verspeist wird. Hühner gibt es heute fast überall. Ihre Zahl übersteigt die aller anderen Haus- und Nutztiere (abgesehen von Bienen und Schrimps). Fast drei Hühner kommen derzeit auf jeden Erdenbürger. Dabei ist der Mensch spät auf das Huhn gekommen.
Rind, Schwein, Schaf und Ziege waren schon seit Jahrtausenden domestiziert, als vor etwa 5400 Jahren irgendwo in Südostasien jemand durch den Urwald wanderte und sich ein paar Küken des Bankivahuhns in die Tasche steckte. „Es darf als sicher gelten“, schreibt der Nutztierforscher Hans Hinrich Sambraus, „dass die ursprünglichen Gründe für die Domestikation einzelner Arten nicht mit den jetzigen Nutzungszwecken übereinstimmen.“ Beim Schaf und beim Rind nimmt man an, dass sie zunächst als Kult- und Opfertiere gezähmt wurden. Beim Huhn – so die Theorie – könnten die Hahnenkämpfe die menschliche Neugier geweckt haben, aber beweisen kann man es nicht. „Es wird uns ewig rätselhaft bleiben“, schrieb der Zoologe Alfred Brehm, „wie es der Mensch anfing, die freiheitsliebenden Wildhühner zu vollendeten Sklaven zu machen.“ Vermutlich war es gar nicht so schwer. Noch heute kann man in vielen Gegenden beobachten, dass Hühner in der Nähe des Hauses bleiben, auch wenn sie frei herumlaufen dürfen. In ärmeren Gegenden müssen sie sogar ihr Futter selbst suchen und schlafen auf den Bäumen am Dorfrand. Die „Freiheitsliebe“, die Brehm dem wilden Bankivahuhn unterstellt, scheint erloschen zu sein. „Die Henne ist das beste Beispiel dafür“, schrieb der polnische Dichter Zbigniew Herbert, „wo das enge Zusammenleben mit Menschen hinführt. Sie hat die Leichtigkeit und die Anmut des Vogels gänzlich verloren.
Trotzdem kam das Huhn in vielen menschlichen Kulturen zu hohen Ehren. Laut dem finnischen Kalevala-Epos entstand das Universum aus den Eiern eines Huhns. In der griechischen und römischen Antike, aber auch auf Sumatra versuchten Priester in den Innereien von Hühnern die Zukunft zu lesen. Ebenso wurde das Verhalten beim Körnerpicken als Omen für kommende Ereignisse betrachtet. Engländer brechen noch heute nach dem Genuss eines gebratenen Huhns den abgenagten Gabelbeinknochen. Wer das größere Stück in der Hand hält, darf sich etwas wünschen.
Die Menschen brachten die pflegeleichten Vögel aus ihrer ursprünglichen Heimat Südostasien zunächst ins Industal (dem heutigen Pakistan) und später nach Ägypten. Von dort gibt es aus dem zweiten Jahrtausend vor Christus bereits schriftliche Überlieferungen, dass Hühner jeden Tag ein Ei legen. Das heißt, der größte züchterische Fortschritt hatte damals bereits stattgefunden. Bankivahühner legen nur etwa 20 Eier im Jahr, heutige Legerassen bis zu 300. Über Griechenland und Rom schaffte es das Huhn etwa 700 vor Christus in germanische Gefilde. Wie bei den anderen Nutztieren erreicht im 19.Jahrhundert die Veredelung durch Zucht ihren Höhepunkt. Aus dieser Zeit stammen die meisten der 180 im europäischen Rassegeflügelstandard bekannten Formen, darunter die über fünf Kilo schweren Brahma, die Seidenhühner, deren Federn wie weiches Fell wirken, die Italiener, die dem wilden Bankivahuhn ähneln und die Weißen Leghorn, ein Erfolgsmodell, das in 51 Ländern der Erde Eier legt.
In den Industrie- und Schwellenländern ist die Hühnerhaltung eine hoch spezialisierte Branche, die penibel auf Wirtschaftlichkeit und Hygiene achtet. Jeweils vier Konzerne beherrschen den Weltmarkt für Legehennen und Broiler. Sie besitzen exklusive Zuchtlinien und teilen sich den Markt. Einer der Großen im Geschäft ist die deutsche Firma Westjohann, zu der das Wiesenhof-Imperium gehört. „Die moderne Geflügelzucht ist eine große soziale Tat“, sagt Eigentümer Paul-Heinz Westjohann. „Ein Hähnchen kostet heute genauso viel wie vor 50 Jahren, während das Einkommen sich vervielfacht hat.“ Für weniger als drei Euro ist heute ein ganzer Broiler aus dem Tiefkühlregal beim Discounter zu haben. Solche Preise waren einst soziale Utopie. Der Französische König Heinrich IV, ging als guter Herrscher ins Volksgedächtnis ein, weil er jedem Franzosen „Sonntags ein Huhn im Topf“ versprach.
Dass sich heute in den Industrieländern auch Geringverdiener tagtäglich ein Huhn im Topf leisten können, liegt an der komplett durchrationalisierten Aufzucht. Weniger als 80 Cent kostet die Mast eines Broilers vom Kauf des Kükens aus der Brüterei bis zur Schlachtreife. Am Ende wiegt der Vogel etwa zwei Kilogramm. Um dieses Gewicht zu erreichen muss er 3,2 Kilogramm Futter in Fleisch umwandeln. Das ist verglichen mit Schweinen oder Rindern ein sensationell geringer Bedarf. Broilermast findet normalerweise in großen Hallen statt, in denen etwa 20 Tiere pro Quadratmeter scharren. Damit sie sich nicht verletzen, wird ihnen als Küken die Schnabelspitze gekappt. Am Ende ihres kurzen Lebens reisen sie in Kisten verpackt und zum Schlachthof.
[Video zur Domestikation von Tieren]
Die Industrialisierung des Huhns entfachte einen erbitterten Streit
Legehennen in Käfigbatterien wurden zum Symbol für inhumane Tierhaltung. Vierzig Jahre nach dem Aufkommen der ersten Proteste wurden die Hühnerkäfige in Deutschland verboten. Die anderen EU-Staaten wollen bis zum 2012 folgen. Wer sich einen Überblick über die Haltungsformen der Nach-Käfig-Zeit verschaffen möchte, kann das auf dem Lehr- und Forschungsgut Ruthe vor den Toren Hannovers tun. Die Tierärzte, Agraringenieure und Verhaltensforscher auf Gut Ruthe kamen zu Ergebnissen, die ihnen viel Ärger einbrachten, weil sie dem widersprechen, was die meisten Menschen glauben wollen: Freilandhaltung ist schlechter als ihr Ruf. Sie belastet die Umwelt durch den vielen Kot, der die Erde verdirbt. Und auch für die Tiere ist der Auslauf weniger angenehm, als man früher dachte. Hennen, die unter freiem Himmel leben, werden häufiger krank und sterben im Durchschnitt früher. Freilandhühner leiden verstärkt unter Salmonellen und Wurmbefall, denn Wildvögel wie Tauben und Spatzen schleppen Krankheiten und Parasiten ein. Das Risiko einer Infektion mit Geflügelgrippe ist sehr hoch. Außerdem kommt es weitaus häufiger als im Käfig zu dem von Hühnerhaltern gefürchteten Federpicken und Kannibalismus: Die Hennen picken sich gegenseitig die Federn aus und hacken sich zu Tode. Freilandhühner brauchen häufiger tierärztliche Behandlung.
Die Hennen in der früher üblichen Käfighaltung leben vergleichsweise gesünder und auch ihre Eier sind weniger von Keimen belastet. Andererseits steht fest, dass Legehennen in der Enge der Käfige sich nicht selten die Knochen brechen. Außerdem wurde nachgewiesen, dass bestimmte, wichtige Verhaltensweisen, die bei Hühnern genetisch vorprogrammiert sind, im Käfig lebenslang unterdrückt werden. Sie können nicht Scharren, sie können sich zum Eierlegen nicht zurückziehen, sie haben keine erhöhte Sitzgelegenheit zum Schlafen. Gibt es also für Landwirte nur die Alternative zwischen verhaltensgestörten oder kranken Hühnern?
Der Agrarwissenschaftler Christian Sürie und seine Mitarbeiter suchen auf Gut Ruthe den Ausweg aus diesem Dilemma, indem sie die beiden aussichtsreichsten Haltungsformen vergleichen, die sich vermutlich in der EU durchsetzen werden: Die so genannte Volierenhaltung mit Auslauf und die Kleingruppenhaltung. Die Hennen in den Volieren können an die frische Luft gehen, haben dort aber nicht so viel Platz wie ihre Artgenossinnen in der Freilandhaltung. In der Kleingruppenhaltung geht es enger zu. Die Hennen leben in Großkäfigen und kommen nie ans Tageslicht. Dennoch sind diese Hühnerwohngemeinschaften so geschickt eingerichtet, dass die Hennen darin ihr Verhaltensprogramm weitgehend ausleben können.
„Käfig bleibt Käfig“, sagt die ehemalige Agrarministerin Renate Künast. Der Streit geht weiter. Welche Haltungsvariante sich in Deutschland und Europa durchsetzt, bleibt vorerst offen. Die Hühner werden brav mitmachen. „Die verschiedensten Umstände“, schrieb Brehm über das Huhn, „erträgt es mit einer bewunderungswürdigen Fügsamkeit.“ Wir haben ihm viel zu verdanken.
http://www.welt.de/wissenschaft/article3828206/Das-Huhn-der-vollendete-Sklave-des-Menschen.html