Der Kampf gegen Tierversuche ist heuchlerisch. In unserem Alltag nehmen wir tausendfaches Leid in Kauf. Dagegen hilft kein strengeres Gesetz, sondern ein Bewusstseinswandel.
Einen Folterer hat man ihn genannt. Einen Verbrecher. Einen Perversen. Man hat ihm öffentlich gedroht, seinen kleinen Sohn zu entführen und als Versuchstier einzusetzen. Seine Familie steht regelmäßig unter Polizeischutz.
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Andreas Kreiter ist ordentlicher Professor in Bremen. Er führt Versuche mit Halbaffen durch. Was er tut, ist behördlich genehmigt. Kreiter betreibt Grundlagenforschung. Vielleicht, so hofft er, kann seine Arbeit einmal dazu beitragen, Epilepsie oder Demenz besser zu verstehen. Vielleicht. Bei Grundlagenforschung weiß man das nie so genau.
Für einige seiner Kritiker ist Kreiter schlicht das Böse. Der Streit um seine Versuche währt seit Jahren. Er verliert sich tief im Detail und ist doch sehr grundsätzlich: Ist es unbedenklich, Elektroden in ein Gehirn zu stechen, wenn dies keine Schmerzen verursacht? Ist es zumutbar, wenn die Affen nichts zu trinken bekommen, damit sie für ihre Mitarbeit nach Belohnung in Form von Apfelsaft dürsten? Oder ist das alles zu viel Qual für zu wenig Erkenntnis?
Der Streit steht exemplarisch dafür, wie in Deutschland über Tierschutz nachgedacht wird. Tierversuche werden erbittert bekämpft. Dabei finden sie unter streng kontrollierten Bedingungen statt. Manchmal scheint es, als würde dieser Krieg stellvertretend geführt – wegen unser aller Unbehagen im Umgang mit dem Tier.
Der Kasus Kreiter liefert die idealen Bilder: Affen, die mit großen Augen in die Kamera schauen. Steckt nicht ein gerüttelt Maß Mensch in ihnen? Er zeigt einen nicht allein mit Nützlichkeitserwägungen aufzulösenden Konflikt, den zwischen der Würde der Kreatur und der Suche nach Erkenntnis. Dürfen dafür Tiere leiden? Er beschwört große Fragen herauf. Nach der Heiligkeit von Zweck und Mitteln. Nach Personalität und Würde. Nach dem Trennenden zwischen Mensch und Tier.
Jahrzehntelang hat die Tierrechtsbewegung jene Unterscheidung infrage gestellt, die das Tier zum Gegenstand erklärte: käuflich, nutzbar, seelenlos. Argumente lieferte die Forschung, sie hat die Sonderstellung des Homo sapiens demontiert. Haben wir allein ein Bewusstsein? Weit gefehlt. Selbstlosigkeit, Mitgefühl und Hinterlist, Strategie und Sprache: Welches Merkmal man sich auch vornimmt, die Grenze verläuft niemals trennscharf zwischen Mensch und Tier. Also sind auch die Rechte von Tieren in ihrer Empfindsamkeit begründet, in der Art ihrer Wahrnehmung, in ihrer Intelligenz. Tiere zu schützen ist kein gnädiger Akt, sondern ein Gebot der Natur.
Bewusst machen wir uns das nur selten, wenn wir nämlich ausnahmsweise hinsehen. Vielleicht ist der Streit um die Bremer Affen auch deshalb so heftig, weil er in Wahrheit nicht zum Ziel führt, sondern ablenkt. Ablenkt vom Alltag. Tiere mögen Rechte haben, doch ihre Qual nehmen viele Menschen Tag für Tag gedankenlos in Kauf.
Eisbären in Gefangenschaft rufen nationales Entzücken hervor
Gegen Tierversuche wettern auch jene, die sich von den Stupsnasen ihrer Rassehunde entzücken lassen und dabei vergessen, dass die über Generationen herangezüchtete Kurzköpfigkeit den Tieren das Atmen schwer macht, dass sie eine Qualzüchtung Gassi führen. Ob Freunde des Pferdesports wissen wollen, wie grausam manche Springer und Galopper trainiert werden? Fragen sich Zoobesucher, wie artgerecht die Exoten direkt vor ihren Augen leben?
Affen im Labor rufen unsere Abscheu hervor. Zoo-Eisbären wie Knut (Berlin), Flocke (Nürnberg) oder Wilbär (Stuttgart) sorgen hingegen für nationales Entzücken – solange sie unserem zutiefst menschlichen Kindchenschema entsprechen. Gegen diese Gefühlsduselei sind Kritiker chancenlos, wenn sie mahnen, dass in Gefangenschaft verhätschelten Raubtieren schwere Verhaltensstörungen drohen.
Auch gegen niedliche Möpse haben wir nichts einzuwenden. Vor vermutlich 14.000 Jahren hat der Mensch den Wolf domestiziert, den Hund aus ihm gezüchtet. Seither ist er Jagdwerkzeug, Nahrungsquelle, Wächter, Spielzeug für das Kind – und immer mehr bloße Zierde. Resultate dieser Entwicklung sind pittoreske Kreaturen, die kaum gehen, gucken und atmen können. Motorische und geistige Krüppel sind in den Straßen zu bewundern: fettsüchtige Sabberpumpen, beißwütige Terrier oder unterzuckerte, herzkranke Mini-Chihuahuas mit deformierten Köpfen.
Der wegen hängender Ohren und trauriger Augen von Kindern besonders geliebte Basset neigt als genetischer Krüppel nicht nur zu Zwergwuchs, Scheinschwangerschaft, Harnsteinbildung und Arthrose. Häufig leidet er auch an grünem Star, Bindehautentzündung und Leistenbruch. Im Winter bescheren ihm die Stummelbeine Hodensack- und Vorhauterfrierungen. Manchem Shar Pei im faltigen Pelz, manchem Cavalier King Charles Spaniel (das Hirn eingepfercht im zu engen Schädel) mag man da wünschen: Wärst du doch Wolf geblieben!
Der vermeintliche Hundefreund nimmt am Leid seines Schützlings genauso selten Anstoß wie der durchschnittliche Fleischesser am Schicksal seines Eiweißlieferanten. Die meisten greifen am liebsten nach Schnitzeln zu Schleuderpreisen. Durchschnittlich 88,4 Kilogramm Fleisch verbraucht jeder Bundesbürger im Jahr. Nicht alles davon essen die Deutschen selbst, einiges verfüttern sie gleich weiter. 2,6 Milliarden Euro geben sie jährlich für Tierfutter aus, das meiste davon, um ihre 5,5 Millionen Hunde und 8,2 Millionen Katzen satt zu kriegen.
Wir lieben und essen sie, unsere Tiere. Dass das in ihrem Alltag viel Grausamkeit bedeuten kann, wird uns erst bewusst, wenn wir wieder einmal mit Bildern eines Tierhaltungs- oder Schlachtskandals konfrontiert werden.
Wie vergangene Woche in den Tagesthemen. Ein deutscher Schlachthof. Bis zu 600 Schweine pro Stunde verschlingt die Produktionsstraße, die Tiere säuberlich zu Ware zerlegt. An ihrem Anfang sticht ein Mann jeder Sau mit einem Hohlmesser ins Herz oder in die Hauptschlagader. Nur wenige Sekunden hat der »Stecher« dafür – und das reicht oft nicht aus, um gründlich genug zu töten. Dann können die betäubten Tiere noch einmal im Siedebad erwachen, wo ihnen Haut und Borsten abgebrüht werden. Eine Qual. An den Gesetzen mangelt es nicht. »Wir haben im Prinzip ausreichende Vorschriften«, sagt Klaus Troeger vom Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel, der den Tod im Siedebad öffentlich gemacht hat. Die deutsche Schlachtverordnung gehe sogar über geltendes EU-Recht hinaus. Es fehle, klagt Troeger, schlicht an Kontrollen.
Und ganz offenbar am Bewusstsein des Konsumenten. Welches Schicksal sich unter der Schutzfolie der Wurstverpackung verbirgt, unter welchen Bedingungen ein Tier gehalten, transportiert oder geschlachtet worden ist, erkennt der Kunde nicht. Er sieht vor allem auf den Preis. Industrielle Produktion ist nicht per se schlecht. Aber in Verbindung mit krimineller Energie begünstigt die anonyme Massentierhaltung das Leiden in großem Maßstab.
Und gegen die Discounterpreise kann kein Metzger bestehen, der seinem Kunden noch gern berichtet, von welchen Höfen in der Umgebung seine Würste und Schnitzel stammen. Bio-Erzeugnisse – die meist für bessere Haltung stehen – bilden bisher nur eine kleine Marktnische. »Es gibt im Lebensmittelmarkt keinen Qualitätswettbewerb, weil die Transparenz fehlt«, sagt Martin Rücker, Sprecher der Verbraucherorganisation Foodwatch. »Es gibt nur einen Preiswettbewerb.«
Den Nutzen möglichst billig, Schutz nicht um jeden Preis – dieser bigotte Umgang mit dem Tier ist nicht neu. Mit der Erfindung der Religionen erlangten Tiere in vielen Kulturen den Status von Gottheiten. Dass man den Heiligen im Alltag mit Ehrfurcht begegnet wäre, ist nicht überliefert. Erst im römischen Recht wurden Tiere vom juristischen Nichts zum Gegenstand des Rechtsverkehrs – wie übrigens auch die Sklaven. Paragrafen, die das Quälen der Sache Tier verboten hätten, kannte Rom aber nicht. Humanismus, Aufklärung und Pietismus führten erst im 19. Jahrhundert zum ethisch begründeten Tierschutz. Der Elsässer Arzt und Theologe Albert Schweitzer predigte die Ehrfurcht vor dem Mitgeschöpf: »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.«
Der 1822 in England verabschiedete Martin’s Act gilt als erster Erlass der Welt, der Tiere um ihrer selbst willen schützt. Vorreiter in Deutschland war 1838 das Königreich Sachsen. Es stellte in Artikel 310 des Kriminalgesetzbuchs Tierquälerei unter Strafe. Württemberg, Hessen-Darmstadt, Schwarzburg-Sonderhausen, Bremen und Bayern folgten. Im 20. Jahrhundert entwickelten die meisten europäischen Länder nationale Tierschutzgesetze. Europarat und Europäische Union erließen staatenübergreifende Regelungen. Um die Novellierung der EU-Tierversuchsrichtlinie wird gegenwärtig heftig gerungen. Die letzte gründliche Überarbeitung des deutschen Tierschutzgesetzes datiert von 1998. Vier Jahre später wurde der Tierschutz als Staatsziel ins Grundgesetz geschrieben. Damit ist er jetzt juristisch ein »überragend wichtiges Gemeinschaftsgut«.
Während der Mensch seinen Mitgeschöpfen endlich zugestand, keine bloßen Gegenstände zu sein, liefen immer weniger davon durch sein Blickfeld. In den fünfziger Jahren hatten viele Deutsche noch täglichen Kontakt zu Nutztieren. Eigene Hühner- oder Kaninchenställe, gar Hausschweine waren keine Seltenheit, auch in den Arbeitersiedlungen der Städte nicht. Fleisch machte noch Geräusche, hatte Augen und Fell oder Federn.
Allein in Deutschland leben heute rund 27 Millionen Schweine, knapp 50 Millionen Hennen und Küken, dazu Millionen Schlachtrinder – für den Konsumenten praktisch unsichtbar. Und die meisten Nutztiere leben nicht allzu lange. Die Mastzeit eines Hähnchens beträgt sechs bis acht Wochen, die eines Kalbs drei Monate. Ein Schwein ist oft gerade mal ein halbes Jahr alt, wenn es zur Schlachtbank geführt wird. Zucht, Mast, Schlachtung – sie sind im industriellen Maßstab organisiert und konzentriert. Und zwar weltweit.
Wer wissen will, wie sich die Lebens- und Todesumstände der Nutztiere entwickeln werden, muss in die Schwellen- und Entwicklungsländer schauen. Die Menschen dort essen heute fünf Mal so viele Eier und drei Mal so viel Fleisch wie vor fünfzig Jahren. Kein Land legt in der Tiernutzung rasanter zu als China. Heute ist es der größte Schweineproduzent der Welt – und muss dennoch Fleisch importieren.
Bevölkerungswachstum und Verstädterung werden die Industrialisierung der Fleischproduktion weiter vorantreiben. Mit allen Schrecken, die in Europa mühsam verdrängt worden sind: in Drahtbatterien gesperrte Hühner; Schweine mit von Gitterböden deformierten Füßen; Dauerstress durch Lärm, Schmutz und Enge, wenn in Hallen Zehntausende, gar Hunderttausende Tiere untergebracht sind. Die Maßstäbe im Tierschutz drohen global weiter auseinanderzuklaffen. Zwar bestimmten Standards bei der Haltung, beim Transport und bei der Schlachtung von Tieren in reichen Staaten zunehmend über den Zugang zu Märkten, schreiben die Autoren des jüngsten FAO-Agrarberichts. Aber: »In einigen Entwicklungsländern wächst die Sorge, dass Tierschutz zu einer weiteren Hürde für sie werden könnte.«
»Nichts wird die Chance auf ein Überleben auf der Erde so steigern wie der Schritt zur vegetarischen Ernährung«, wird Albert Einstein zitiert – eine Hypothese, die sicher nicht dem experimentellen Test unterzogen werden wird, ganz offenbar ist die Fleischeslust zu groß.
Als möglicher Ausweg gilt Fleisch, das ohne Tier heranwächst, im Laborgefäß: Muskelzellen, die in Nährflüssigkeit, stimuliert von Stromstößen und Roboterbewegungen, zum Retortensteak erwachsen. Mark Post, Physiologe an der Universität Maastricht, arbeitet an dieser Zukunft. »Wahrscheinlich wird es zunächst Fleischprodukte wie Würstchen oder Hamburger geben«, sagt er über das künftige Kunstfleisch. »Das Ziel ist aber, es so aussehen, schmecken und sich anfühlen zu lassen wie echtes Schwein oder Rind.« Vielleicht, irgendwann. Wann genau? »Fünf Jahre sind sicher nicht realistisch«, sagt Post, »Fortschritt und Umfang der gegenwärtigen Forschung sind dafür zu gering.«
Das könnte sich ändern, wenn sich ein Trend auf den Lebensmittelsektor überträgt, der den Alltag im Forschungslabor prägt. Wissenschaftler suchen dort längst nach Alternativen. 3R lautet die Formel. Sie steht für replacement, reduction, refinement – Tierversuche werden ersetzt, in ihrer Zahl reduziert oder wenigstens tiergerechter gestaltet.
So dürfen von 2013 an nur Kosmetikprodukte auf dem europäischen Markt angeboten werden, für die keine Experimente an Tieren durchgeführt wurden. Medikamente werden an Zellkulturen getestet, Umweltverträglichkeitsprüfungen an Fischeiern statt an Fischen vorgenommen, Biologiestudenten am Computermodell statt am Tier ausgebildet.
Transparenz und Kontrolle sind die wichtigsten Forderungen an den Tierschutz. Nicht neue Gesetze sind notwendig, sondern Bewusstseinswandel. In der Schweiz treibt der Jurist Antoine Goetschel diesen Wandel voran, der weltweit einzige »Tieranwalt«. Er kämpft auch für jene, die ohne öffentliche Kontrolle schutzlos ihren Besitzern ausgeliefert sind, die Heimtiere. Mit Erfolg zog er gegen eine Frau vor Gericht, die unter erbärmlichen Bedingungen 149 Katzen in ihrer Wohnung gehalten hatte. Es ist sein Verdienst, dass der Schweizer Nationalzirkus die Delfinabteilung seines Kinderzoos in Rapperswil schloss. Vielen würden wohl weitere Fälle für Goetschel einfallen.
Ungesühnt aber bleibt millionenfaches Leid, das sich jenseits unserer Wahrnehmung abspielt – und das für den überwältigenden Teil der Qualen steht, die Menschen Tieren zufügen. Über die Affenversuche von Andreas Kreiter wird bald ein Gericht befinden. Auf die Anklagebank gehören andere, doch die sind nur schwer dingfest zu machen. Sie quälen ihre Tiere hinter zugezogenen Wohnzimmergardinen. Oder sie greifen zum billigsten Schnitzel, zahlen und gehen.
Mitarbeit: Stefan Schmitt und Urs Willmann
http://www.zeit.de/2010/15/Affen-Tierschutz?page=all