Karen Duve: Anständig essen. Ein Selbstversuch, Galiani-Verlag, Berlin 2011
Was oder wen darf man essen und was oder wen nicht? Solche Fragen sind im aktuellen Gespräch.
Jonathan Foer stieß die Debatte an mit der Frage, ob man Tiere essen dürfe. Seine
Antwort: aber selbstverständlich. Und von anderen Tierprodukten war hier nicht einmal die Rede. Nach Foer konnte es eigentlich nur besser werden, so legte man, wenn auch etwas bange, Hoffnung in Duves lang angekündigtes Buch.
Keine glücklichen toten Tiere
Am Anfang steht die Einsicht, dass das Verhalten fast aller Personen aus der Durchschnittsbevölkerung, die sich um Haustiere sorgen, aber Tierprodukte kaufen, eine Doppelmoral ist. Auch heißt es hier bereits, und dafür braucht es nur etwas Allgemeinwissen, dass "Tierquälerei" in der Tierindustrie die Regel ist, nicht die Ausnahme. Nachdem die Autorin von ihrer Mitbewohnerin dazu angeregt wurde, sich mehr Gedanken über das, was sie kauft, zu machen, beschließt sie, ein Jahr lang im Selbstversuch ein "besserer Mensch" zu werden.
Über 16 Kapitel geht sie schrittweise von einer Lebens- und Ernährungsweise zu nächsten über, jeweils zwei Monate, nur dem Veganismus kommen vier zu. Doch schon im ersten Kapitel wundert man sich über diesen unnötigen Umweg, denn hier – noch vor der "Bio-Phase" – stellte sie bereits fest, dass auch "Bio"-Tiere nicht "totgestreichelt" werden. Was bei Bio zählt, ist vor allem die eigene Gesundheit, weniger die von anderen: "Von allen Ernährungsformen mit moralischem Anspruch kommt Bio-Konsum den Eigeninteressen am weitesten entgegen."
Die Rhetorik der Tierschützer wiederholend verdammt sie die "Kleingruppenhaltung" und bevorzugt die "Alternativhaltungen". Zur Erkenntnis, dass letztlich kein großer Unterschied zwischen beiden besteht, kommt sie erst später. Und bei den absurden Argumenten pro Biotierausbeutung, die hier vorgetragen werden, ist nicht immer klar, ob die ernst gemeint sind oder nicht. Etwa, ein Leben als sog. Nutztier sei besser, als gar nicht geboren zu werden oder Sätze wie "Ich schulde ihm [dem Tier] einen guten Tod ohne Angst und Schmerzen" – ich vermute, das Tier würde auf diese Schuldbegleichung gerne verzichten.
Der (nicht ganz so) gute Vegetarier
In der vegetarischen Phase empört sich Duve zuerst über die Pesco-Vegetarier, schließlich sei man kein "richtiger" Vegetarier, wenn man Tiere tötet. Dafür – Fortschritte sind erkennbar – räumt sie mit der Vorstellung auf, "kleine Bauernhöfe" oder "Familienbetriebe" seien grundsätzlich besser als konventionelle Formen der Tierausbeutung.
Überraschenderweise beschreibt sie hier, wohlgemerkt in der vegetarischen Phase, bereits die Ausbeutung und Quälerei, die mit der Kuhmilchherstellung verbunden sind, und berichtet über Fehlbetäubungen von Rindern (also auch Kühen) in Schlachthöfen. Zudem, dass in Verbindung mit der Eierproduktion die männlichen Küken vergast werden, weil sie als Legehennen nicht zu gebrauchen sind. Eine anschließende Reflexion über den Zusammenhang mit dem Vegetarismus findet allerdings nicht statt, wobei nicht klar ist, ob sie darauf verzichtet, weil es zu offensichtlich ist.
Veganismus, und kein...
Damit geht es inhaltlich nahtlos über zur veganen Phase. Diese wird auf vier Monate ausgedehnt, damit sie sich richtig einleben kann. Die Art und Weise, wie sie ihren Eltern sie Problematik mit Bienenhonig zu erläutern versucht, ist doch etwas lückenhaft. Im Gegensatz zu anderen Autoren geht sie dafür auch auf die Kritik von nicht ernährungsbezogenen Tierprodukten ein, vor allem was Kleidung betrifft. Von den veganen Alternativprodukten ist sie anfangs wenig begeistert, schmeckt alles nicht, doch nachdem sie nach etwas Ausprobieren die richtigen gefunden hat, ist sie ganz zufrieden.
Erstaunlich einsichtig ist Duve, selbst Reiterin, dahingehend, dass auch Reiten Ausbeutung bedeutet. Sie selbst vergleicht es mit Sklaverei und vermeidet infolgedessen teilweise das Reiten. Die vegane Ernährung ihrer Katzen bleibt ein Versuch, da diese die Nahrung nicht gleich annehmen wollen. Wegen eines Verdachts auf negative gesundheitliche Auswirkungen, setzt sie sie später wieder ab. Als sich der Verdacht als falsch erwies, startet jedoch keinen neuen Versuch.
Ihr selbst geht es gesundheitlich gut und die antivegane Propaganda wird als Vorwand entlarvt: "Das Gerücht, eine vegane Ernährung würde die Gesundheit gefährden, weil sie dem Körper entscheidende Proteine, Vitamine und Eisen vorenthalte, hält sich natürlich deswegen so hartnäckig, weil sich die meisten klammheimlich wünschen, dass eine vegane Ernährung gar nicht möglich sei." Gründe für den Veganismus sieht sie mit eigenen Augen. Bei einer Befreiungsaktion– es handelt sich um eine "vorbildliche Bodenhaltung" – beobachtet sie, dass alle Hühner ein nur teilweise intaktes Federkleid haben, manche völlig kahl sind. Die Hühner, die die Tortur nicht überstanden haben, landen auch in bei dieser Haltungsform im Müllcontainer.
Später wird sie noch einmal in eine "Bio-Freilandhaltung" mitgehen, wo Filmaufnahmen gemacht werden. Auch dort wird ihr erklärt, dass die Tiere in keinem besseren Zustand sind als in konventioneller Haltung: Sie haben genauso fast keine Federn, die Luft ist mit Ammoniak und Staub durchsetzt, es liegen verwesende Leichen herum usw. Das Übliche eben. Ein verletztes Huhn nimmt Duve dann auch mit.
... Wischiwaschivegetarismus
Eine Reflexion über das Spektrum der Konsequenz (von bio über vegetarisch bis vegan) bildet die Überleitung zu einem Interview mit Achim Stößer, dem "Strengsten unter den Strengen". Er sagt ihr: "Auch Vegetarier sind Mörder, nur essen sie ihre Opfer nicht. Den Tieren ist es aber völlig egal, ob sie nun für den Eikonsum eines Vegetariers gequält und getötet werden oder damit ihre Körper gegessen werden." Sie redet mit ihm über die Grenzen des Veganismus, über Reformismus und lässt ihm das letzte Wort, mit dem er leider Recht behalten hat.
Was man von ihrem Gespräch mit dem Imker halten soll, ist dagegen nicht ganz klar. Auf ihre Frage nach der Ethik ist er nicht eingegangen, sondern betont lieber, dass er (im Gegensatz zu anderen) schwache Bienenvölker nicht abbrenne, sondern aufbreche, sodass die Bienen von Vögeln getötet werden. Ansonsten beutet er sie nur so aus und zerquetscht bei der alltäglichen Arbeit ein paar Tiere. So ein guter Mensch. Fast so gut wie die Jäger, "eine Minderheit unangenehmer Zeitgenossen, die nichts zur Rechtsprechung legitimiert als ausgerechnet der Umstand, dass sie gern Tiere totschießen". Der Jäger, mit dem sie spricht, meint, bei einem "sauberen" Schuss sei das Tier sofort tot. Wieso das eine Rechtfertigung sein soll, es überhaupt zu erschießen, erläutert er nicht.
Sprechende Pflanzen
Die letzte Phase in Duves Selbstversuch ist der Frutarismus. Dessen Vertreter verstehen es weniger, diese Lebensweise positiv darzustellen. Das erste Exemplar gibt als Grund an, dass seine Mutter ihm sagte, im (so wörtlich) "Paradies" hätten die Menschen (nur) Früchte gegessen. Weil das so logisch ist, wiederholt er es kurz darauf nochmals. Nahrungsmangel sollen seiner Aussage nach einige Frutarier durch "Prana", also Lichtnahrung (mit anderen Worten: gar keine Nahrung), überstehen. Oder auch nicht, dann sterben sie an Organversagen (was dann wohl je nach Religion als göttlicher Wille zu erklären ist).
Das Problem bei der Begründung für den Frutarismus ist, dass Pflanzen nicht leidensfähig sind. Als Gegenargument kramt Duve die Experimente, die (bzw. wie sie) im "Geheimen Leben der Pflanzen" beschrieben sind, hervor. Unglücklicherweise haben sich diese Versuche bei Nachprüfungen als nicht haltbar erwiesen. Auch genetische Übereinstimmungen, die zwischen Menschen und Pflanzen zu gewissen Prozentsätzen bestehen, machen es nicht plausibler, da Schmerzempfindung für Pflanzen nun einmal evolutionsbiologisch unsinnig (sogar negativ) wäre. Auch die angeführte "Kommunikation" von Pflanzen geht nicht über Reiz-Reaktions-Schemata hinaus und "Interessen" sind genauso wenig auszumachen, da ohne Bewusstsein keine Interessen vorhanden sein können. Der zweite Vertreter des Frutarismus diskreditiert diesen dann völlig. Dieser ist der Auffassung, dass Tierprodukte unter bestimmten Umständen in Ordnung seien, also die typische Idylle der tierfreundlichen Ausbeutung.
Ich persönlich sympathisiere nicht mit dem Frutarismus, weil er keine (wissenschaftlich haltbare) ethische Begründung nachweisen kann, wieso man Pflanzen nicht nutzen darf, aber über diese zwei absurden Exemplare dargestellt zu werden, hat er fast nicht verdient. Fast, denn wirklich überraschend ist diese Form von Irrationalismus nicht. Auch der Verweis auf die ebenso tierausbeutende, aber pflanzenliebende Bishnoi-Sekte macht die Sache nicht überzeugender. Später kommt sie noch zur Jain-Sekte, auch hier wie gehabt: keine Spur von Veganismus – so trinkt der Vorsitzende der Jainis-Vereinigung Deutschland Kuhmilch –, sondern nur ein bisschen "Enthaltsamkeit" was Tierprodukte betrifft.
Viel Einsicht, nicht ganz umgesetzt
Am Schluss fasst Duve fünf Vorsätze. Der erste ist, wenn möglich Bio zu kaufen. Der zweite ist, "kein Fleisch aus Massentierhaltung" zu essen. Zwar stellt sie fest, dass "kein Fleisch von glücklichen Tieren [gibt]. Bloß von toten" und dass eine "ethisch konsequente Haltung erst beim Veganismus [beginnt]", aber ethische Konsequenz ist ihr zu schwierig. Der dritte ist, den Tierproduktkonsum insgesamt um 90% zu reduzieren, der vierte, keine "Leder- und Daunen-Produkte" mehr zu kaufen und der fünfte, insgesamt weniger zu konsumieren.
Trotz der Anerkennung, dass sie sich im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen bemüht hat, sich über die Zusammenhänge der Tierausbeutung zu informieren, ist es ein sehr halbherziges Ergebnis. Dass sie das auch weiß, macht die Angelegenheit nicht besser. Im gleichen letzten Abschnitt schreibt sie (sie möge es selbst beachten): "Es gibt nämlich noch etwas Schlimmeres als das Denken zu verweigern – die Zusammenhänge zu kennen, ohne daraus die Konsequenzen zu ziehen."
Nebeninhalte
Das Buch berichtet vordergründig über ihren Selbstversuch, enthält aber auch andere, verwandte Inhalte. Zwischen den direkt ernährungsbezogenen Teilen berichtet sie aus ihrem persönlichen Leben. Über das Zusammenleben mit ihrer Wohnpartnerin – eine Bio-Pseudo-Vegetarierin, die gerne Angeln geht (später nicht mehr) und die sie ursprünglich zu diesem Experiment bewogen hat –, sowie den bei ihr lebenden Tieren: ein Maultier, ein Pferd, zwei Katzen, Hühner und ihrer schwerkranken Bulldogge, die eingeschläfert werden muss. Außerdem über ihre sonstigen schriftstellerischen Aktivitäten, Diskussionen mit ihren Eltern und anderen Teilen der Familie, von denen sie nur Ausflüchte zu hören bekommt.
Daneben geht es um verwandte Fragen: Wie überzeugend ist die Sonderstellung des Menschen im restlichen Tierreich? Welche Macht hat die Empathie in unserem alltäglichen Leben und wie viel Egoismus steckt darin? Welche gesundheitlichen und ökologischen Probleme sind mit Tierprodukten verbunden? Sie spricht über den Lobbyismus der Tierausbeutungsindustrie, der die politischen Entscheidungen bestimmt, und über den menschlichen Überlegenheitswahn und den religiösen Anthropozentrismus, die angesichts der Evolutionsbiologie einen Dämpfer bekamen.
Man erfährt auch, wie mit diesem Thema bei der Recherche vonseiten anderer umgegangen wurde. Keineswegs überraschend. So wird ein Zeitungsartikel von Duve, der wohlgemerkt lediglich "Massentierhaltung" kritisiert, wegen des Ausdrucks "Tierkind" nicht gedruckt; ein Landwirtschaftsminister sagt ein Interview kurzerhand wieder ab und kein einziger Schlachthof erlaubt eine Besichtigung und begründet dies nicht usw.
Missverständnisse
Neben ihren letztlich halbherzigen Schlussfolgerungen fällt negativ auf, dass Frutarismus trotz seiner dünnen Begründung als höchste Stufe dargestellt wird, auch von ihr selbst, die als Frutarierin "moralisch" nun "kaum noch zu toppen" sei.
Nicht ganz klischeefrei ist, dass sie "Öko-Klamotten" und "Bio-Cremes" mit Veganismus assoziiert, und nicht sehr geschickt ihre Argumentation, dass die EU-Exporte den Markt für "Hühnerfleisch" in Afrika zerstören (wo oder von wem die Hühner umgebracht werden, ist reichlich irrelevant). Ein Missverständnis ist zudem, "militante Tierschützer" würden meinen, Tiere sollten nur in ihrer natürlichen Umgebung leben, was Duve auf Katzen bezieht. Gemeint ist damit nicht, dass man "Haustiere" vor die Tür setzen solle, sondern dass man die "Haustierhaltung" langfristig abschaffen muss, was nicht dagegen spricht, momentan gerettete Tiere aufzunehmen. In Bezug auf B12-Blutwerte meint sie, die Empfehlung "alle zwei bis drei Jahre messen zu lassen", sei zu hoch, man müsse früher messen. Richtig wäre: man muss gar nicht messen, sondern schlicht supplementieren.
Sie spricht des Öfteren von der Grausamkeit im Tierreich, von der Tötungsmethoden von Katzen, Orcas und anderen Tierarten. Das hört sich etwas nach dem "Die sind nicht besser also dürfen wir das auch"-Argument an, das
nicht haltbar ist. Von vielen Rezensionen wurde die Stelle des Buches perpetuiert, wo Duve Parasiten bei ihrem Maulesel tötet und dann den Nicht-Konsum von Honig als zynisch empfindet. Einen Grund dafür gibt es nicht, da (auch passive) Notwehr gegen Parasiten (auch wenn man über die Art und Weise diskutieren müsste) ethisch eindeutiger zulässig ist, als die völlig unnötige Unterstützung von Bienenausbeutung.
Fazit
Obwohl es "Anständig essen" heißt, geht das Buch über die Ernährung hinaus; und wie man anständig isst, wird recht eindeutig mit dem Veganismus benannt. Der Hauptkritikpunkt ist daher, dass die Autorin diese Schlussfolgerung nicht in die Praxis umsetzt, trotz starker Annäherung an sie.
Die faktische Aufklärung über die Praktiken und Folgen der Tierausbeutung sind meist gut gemeint, aber teilweise lückenhaft. Hier wäre mehr möglich gewesen. Eindrücklicher sind die Vorort-Berichte, die hoffentlich bei vielen Menschen die naive Vorstellung von der tierfreundlichen "alternativen" Tierhaltung korrigieren.
Dass Duve ein wenig Naivität bei der Religion walten lässt, ist man von ihr bisher nicht gewohnt gewesen und wird hoffentlich die Ausnahme bleiben, wie auch der fehlende Skeptizismus, wenn es um sprechende Pflanzen geht.