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Abgelaufene Schlagsahne ist "politisch vegan"?

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Abgelaufene Schlagsahne ist "politisch vegan"?

Autor: Achim Stößer | Datum:
Früher leitete sich das Wort "freegan", wesentliche Form des "dumpster diving" ("Mülltonnentauchen"), neudeutsch "containern" noch von "free" (umsonst, kostenlos, gratis; frei) und "[ve]gan" ab. "Containert" wurden Obst, Gemüse usw. Denn wer will schon Tierausbeutungsprodukte konsumieren?

Nun, so mancher offenbar. Ob "Joghurt" oder "Baumkuchen" - solang es nichts kostet, wird es, weil in manchen peer groups das Wort chic ist, als "vegan" umdefiniert. Und damit es nicht gar so peinlich wird, wenn jemand darauf hinweist, daß Drüsensekretausbeutungsprodukte wohl kaum als vegan bezeichnet werden können, kommt eben ein kleiner Zusatz davor: "container-vegan" oder, wie hier für "abgelaufene Schlagsahne", "politisch vegan". Ganz im Stil eines Tierschützers, der sich vor geraumer Zeit "laktovegan[!]" nannte, oder anderer, die sich ein "fast vegan" (zwischen den Mahlzeiten - Tierhautschuhe, Vogelfederkissen oder andere nichtalimentäre Konsumgüter werden ohnehin nicht berücksichtigt) oder "home-vegan" (weil sie daheim nur Chips und sonst in der Kantine essen) an die Brust heften.

Warum haben die Militärs eigentlich noch nicht "politisch friedlich" oder "pa(nzer)zifistisch" fürs Bombenwerfen eingeführt?

Toll: Freibier ist also, egal was drin ist und wie es geklärt wurde "politisch vegan". Probierwurst bei der Verkostung im Laden oder die Häppchen bei Vernissagen sowieso. Und wenn's bei McDonald's auf Coupon den zweiten Burger mal wieder umsonst gibt, gehen sie mit ihrem unveganen, pardon, wie können wir das euphemisieren, vielleicht "mental veganen" (d.h., er frißt Leichen, denkt dabei aber an Gras) Kumpel hin und teilen sich den Coupon.

Manche haben eben nicht begriffen, daß Kuhmilch oder Hühnereier für Menschen keine "Lebensmittel", sondern Todesprodukte sind. Denn auch wenn sie aus dem Müll kommen - bezahlen muß dafür immer jemand. Mit dem Leben.

Abendbrot aus der Biotonne

Autor: Achim Stößer | Datum:
Immer mehr Menschen suchen ihr Essen in den Müllcontainern der Geschäfte. Gefragt sind vor allem abgelaufene Produkte aus Bioläden. "Ressourcen schonend" und "politisch vegan" heißt das in der Szene. Doch die Jagd nach Nahrung wird härter

VON SOPHIE HAARHAUS

Batti S. hockt auf einer Mauer im Hinterhof eines Supermarkts. Vor ihm stehen volle Abfallcontainer: Verpackungsmüll, Biomüll, Restmüll. Geübt beugt er sich über eine geöffnete Tonne, durchsucht den Müll und sortiert aus. "Den Rucola kannst du gleich liegen lassen, der ist immer schlecht", sagt er, als er sich zur Biotonne vorgearbeitet hat. Er findet Brokkoli, Paprika und sogar Bohnen. Im Neonlicht, das den Hinterhof beleuchtet, prüft der 24-Jährige genau, was noch zu gebrauchen ist.

Wer wie Batti, der nur mit seinem Vornamen angesprochen werden will, Essen aus dem Container holt, "findet" oder "containert". Suchen, wühlen und graben tut niemand. Batti nimmt sich eine aussortierte Holzkiste vom Stapel und klemmt sie auf den Gepäckträger seines Fahrrades. "Einmal haben wir sogar fünf Kilo Erste-Klasse-Spargel gefunden", erzählt er und fischt zwei Packungen abgelaufene Schlagsahne aus dem Container, die er auch noch auf dem Rad verstaut.

In Berlin holen sich immer mehr Leute ihr Essen aus den Müllcontainern großer Geschäfte. Besonders beliebt: der Abfall von Bioläden. Die haben jetzt mit ihrem Ruf in der Szene zu kämpfen, besonders freundlich zu sein und besonders gesunde Lebensmittel zu haben. Denn die Läden machen sich strafbar, wenn sie Produkte, deren Verfallsdatum abgelaufen ist, in Umlauf bringen. Außerdem haben sie Angst, dass ihre Kunden sich ekeln vor Menschen, die im Müll wühlen - vor allem aber gehen die Menschen, die das Essen aus dem Müll ziehen, nicht mehr einkaufen.

So ist ein Kampf um den Müll entbrannt. Seit einiger Zeit schließen immer mehr Großhändler ihren Müll weg. "Vorsicht Rattengift", steht neuerdings neben den Containern eines Biohändlers im Industriegebiet. "Früher, als unser Laden noch kleiner war, haben wir gerne unsere Reste weggegeben", erzählt die Geschäftsleiterin eines großen Bioladens. "Wenn man sieht, dass die Menschen das Essen wirklich brauchen, dann will man sie ja auch nicht wegschicken", sagt sie. Irgendwann, als der Laden größer wurde, kamen dann diejenigen, die ganze Wohngemeinschaften mit den Resten des Bioladens versorgen. "Das sind Leute, die auch einkaufen könnten." Seitdem hängt in ihrem Laden ein Zettel. Darauf steht, dass die Mitarbeiter alle, die nach Resten fragen, wegschicken sollen.

Batti ist einer von denen, die abgewiesen werden. Was er und seine WG nicht im Bioladen oder beim Biobauern kaufen, wird "containert". "Das ist einfach der beste Weg, um an Essen zu kommen", findet er. Angefangen hat alles, als Batti von Dortmund nach Neukölln zog. Als er sah, wie viel Essen der Gemüsehändler in seiner Straße wegwarf, bat er darum, das Aussortierte mitnehmen zu dürfen. Dabei habe er sogar noch ein bisschen Türkisch gelernt, erzählt Batti. "Dann habe ich das Containern Schritt für Schritt professionalisiert."

In seiner WG wird die Suche nach alternativen Wege, an Essen zu kommen, längst reflektiert. "Ethisch vertretbar" müsse es sein, meint Batti, der am Küchentisch sitzt und in der Jungle World blättert. "Ressourcen schonend", sagt seine Mitbewohnerin Steff, die aus dem eben "containerten" Essen das Abendbrot zubereitet. "Containern" sei beides, findet sie: Denn das Essen werde ja, wenn es aus dem Müll kommt, nicht extra für einen hergestellt. "Politisch vegan" nennt Batti das.

Steff hat in diesem Sommer beim Ladies-Festival ein Seminar über "Containern" gegeben. "Die meisten Leute kamen mit so einer Art diffusen Kapitalismuskritik", erzählt sie. Viele wüssten gar nicht, was man alles "containern" könne. Auch beim Baumarkt oder beim Teppichhändler würde ab und zu etwas weggeschmissen, was man so nicht kaufen müsse. Neben Steff auf dem Küchentisch liegt das Buch "Rad kaputt? Einfälle statt Abfälle".

Was Steff den Leuten gesagt hat, die in ihrem Seminar "containern" lernen wollten? "Seid nett, unauffällig und hinterlasst keinen Müll." Batti hält sich an diese Regeln, wenn er mit dem Rad zum Supermarkt in seiner Nähe fährt und im Hinterhof die Container durchsucht. Das macht er meistens, wenn die Läden schon geschlossen haben und die Mitarbeiter nach Hause gegangen sind. "Dann ist es am einfachsten", sagt er. Wer einmal mehr findet, als er essen kann, bringt das überschüssige Essen zu einem Treffpunkt. Das sind oft große Wohngemeinschaften, in denen "Containertes" getauscht und die Reste abgeholt werden können. Die Szene, in der Essen "containert" wird, ist gerade dabei, ein sogenanntes Gratisnetzwerk einzurichten. Dort wird das Essen umverteilt - und versucht, mehr Menschen für die "Umsonstökonomie" zu gewinnen.

In der Containerszene werden jetzt neue Möglichkeiten gesucht, um trotz verschlossener Container und Ärger mit den Bioläden an die Reste zu kommen. Schon kursieren in linksalternativen Foren im Internet Listen, welche Geschäfte sich am besten zum "Containern" eignen. Ganz oben auf der Liste: Biogroßhändler im Industriegebiet. "Bis zu dreißig Leute kommen jede Nacht", erzählt ein Großhändler aus Neukölln. Man spricht hier nicht gerne darüber - schon gar nicht mit der Presse. "Wenn wir Überschuss produzieren, spenden wir den", sagt er ausweichend. "Aber alles, was abgelaufen ist, dürfen wir nicht weggeben". Jetzt hat er sich den Trick mit der Warnung vor Rattengift ausgedacht.

Andreas Gevert* und Philip Brüning* arbeiten in der Gemüseabteilung eines Biodiscounters. Auch sie haben die Vorgaben, alles in die Tonne zu werfen, was im Geschäft aussortiert wird. Die beiden Männer stehen in grünen Schürzen im Hinterhof des Ladens und trennen sich von abgelaufenen Lebensmitteln. "Das tut schon weh manchmal, die Sachen einfach so wegzuschmeißen", sagt Brüning und wirft eine Kiste weich gewordene Tomaten in die gelbe Biotonne. "Obwohl sie so gut noch jemand essen könnte."

So ganz halten sich Brüning und Gevert nicht an die Anweisungen, die "von oben" kommen. Jeden Tag kommen Leute, um in den Containern zu wühlen. "Manchmal müssen wir sie wegschicken", erzählt Gevert. Gerne tut er das nicht. Aber er kann die Haltung der Chefs auch verstehen: "Es ist ja wirklich unappetitlich", sagt er, "wenn jemand hier im Müll wühlt und das dann die Kunden sehen". Aber oft fällt es ihnen schwer, die Leute wegzujagen. Dann sagen sie ihnen, sie sollen später noch einmal wiederkommen. Manchmal können sie ihnen dann die besten Sachen raussuchen. "Am besten ist es, wenn die Leute erst nach 21 Uhr kommen", sagt Brüning, während er Pfandflaschen sortiert. Denn da sind die Mitarbeiter schon nach Hause gegangen. "Und wenn wir nicht da sind, dann können wir sie ja auch nicht wegschicken."

Brüning und Gevert kennen die Leute, die über den Parkplatz kommen und am Hintereingang nach Resten fragen oder die Container durchsuchen. "Es kommen immer öfter solche Leute wie die, die man auf dem Alexanderplatz trifft", erzählt Gevert. "Sie tragen völlig zerrissene Kleidung. Und sie haben wirklich Hunger. Dann kann ich das Essen doch nicht einfach so wegschmeißen." Batti und seine Freunde kennen solche Leute nicht. Man redet nicht darüber, warum man gekommen ist, wenn man sich beim "Containern" trifft, meint er. Sie gehören nicht dazu, zu der Szene, in der das Essen "gesammelt" und dann verteilt wird. Zu Gevert und Brüning an die Tür kommen sie trotzdem: Die, die wirklich darauf angewiesen sind, sich ihr Essen aus dem Müll zu holen. Die, die mit gesenktem Blick um Essen bitten und am liebsten nicht gesehen werden würden. Und sie werden mehr, sagt Gevert.

Natürlich kommen auch die Leute aus den Wohngemeinschaften, erzählt Brüning. Die kennen sie schon. Wenn keiner guckt, geben sie auch denen etwas. Aber über die müsse man sich schon manchmal ärgern. "Einmal haben wir gesehen, wie die Leute hier unseren Müll ausgeräumt haben. Wir haben ihnen sogar noch die besten Sachen gegeben. Und dann sind sie in den Laden gegangen und haben gekauft, was sie im Müll nicht gefunden haben", sagt Brüning.

Batti wurde in den letzten Wochen zweimal beim "Containern" erwischt und weggejagt. An seinem Weg, sich Essen zu beschaffen, hindert ihn jedoch keiner. Wenn der Laden geschlossen hat, kommt er trotzdem wieder. Als er das letzte Mal im Halbdunkeln zum Supermarkt fuhr, war der Weg in den Hinterhof versperrt und die Container weggeschlossen. "Vielleicht haben sie mich hier zu oft gesehen", überlegt Batti und bleibt vor dem geschlossenen Tor stehen. "Aber es schadet ja niemandem, wenn ich nehme, was sowieso weggeworfen wird", sagt er und springt über den Zaun.

* Namen v. d. Red. geändert

taz Berlin lokal vom 10.10.2006, S. 23, 310 Z. (TAZ-Bericht), SOPHIE HAARHAUS

http://www.taz.de/pt/2006/10/10/a0225.1/text.ges,1

Tauchen im Müll

Autor: Achim Stößer | Datum:
09.12.2006 11:56 Uhr

Angewandte Konsumkritik
Tauchen im Müll

In New York fischen Konsumverweigerer Essen aus dem Abfall, nicht nur um Geld zu sparen - sie wollen auch die Verschwendung von Nahrungsmitteln anprangern.

Eine Reportage von Andreas Oldag

Janet Kalish wühlt im Müll. Mit flinken Händen zerrt sie an schwarzen Plastiksäcken, die sich vor einem Supermarkt in New York türmen.

Heraus zieht Kalish drei große Familienbecher Frucht-Joghurt und ein halbes Dutzend frisch verpackte Sandwiches. Kalish lächelt. "Das reicht fast für eine ganze Woche Frühstück", sagt die 42-Jährige mit den schulterlangen Haaren.

Sie muss sich eigentlich nicht von Abfällen ernähren. Kalish verdient als Spanisch-Lehrerin an einer New Yorker High-School gut. Dennoch zieht sie regelmäßig in abendlichen Touren durch die Straßen Manhattans.

Sie sei aus Überzeugung "Dumpster Diver" (Müllcontainer-Taucher) geworden, sagt sie. "Ich spare viel Geld." Kalish hat sich der Freegan-Bewegung angeschlossen, die in immer mehr Städten der USA für Furore sorgt. Der Name setzt sich zusammen aus "free" (frei) und "vegan" (fleischlos).

Arbeitslos aus Überzeugung

Einer der Initiatoren ist Adam Weissman, ein Tierschützer und Anti-Kapitalist aus Hackensack in New Jersey. "Die Antwort auf den Hunger in der Welt liegt auf den Straßen New Yorks", sagt der 28-Jährige, der sich selbst als Arbeitslosen aus Überzeugung bezeichnet. Mit seinem zotteligen Bart und seinen Schlabberjeans erinnert er an einen Studenten aus der Hippie-Zeit der siebziger Jahre.

Wahrscheinlich hätte der jüngst verstorbene, linksliberale Ökonom John Kenneth Galbraith seine Freude an Weissman. Der junge Mann setzt die Lehren aus Galbraiths berühmtem Buch "Gesellschaft im Überfluss" in einen bewusst alternativen Lebensstil um: Vieles, was auf den Straßen New Yorks als Müll landet, sei das Ergebnis einer beispiellosen Verschwendung der Konsumgesellschaft, glaubt Weissman.

In Hinterhöfen der Luxusläden

"Wir wollen, dass die Leute darüber nachdenken, wie man auch mit weniger auskommt und trotzdem gut zurechtkommt, ohne zu hungern", sagt er. Weissman selbst ernährt sich schon seit fast zehn Jahren auf die "Freegan-Art" - seitdem hat er keinen Supermarkt mehr betreten.

Auf seiner Website (Website) breitet Weissman seine Weltanschauung aus, hat aber auch praktische Tipps für die Freegan-Fans parat.

So gibt es eine Liste der "Hotspots", der heißen Stellen, wo die Müllsammler im Dschungel der Großstadt am besten Beute machen können. New Yorks teure Gourmetmärkte wie "Garden of Eden" in Chelsea und "Dean & Deluca" in Soho gehören ebenso dazu wie die wegen ihrer frischen Croissants und Baguette-Brote berühmte "Silver Moon Bakery" an der Upper West Side.

Fleisch besser nicht

"Da landen regelmäßig die besten Sachen auf der Straße", weiß der Müllexperte Weissman. Oftmals sei die Ware noch nicht einmal abgelaufen, weil die Geschäfte ihre Regale neu sortieren. Ein Mediziner gibt auf Weissmans Website Ratschläge, wovon man beim Müllsammeln wegen der leichten Verderblichkeit von Lebensmitteln allerdings die Finger lassen sollte: Eier, Fleisch, Fisch und frisch geschnittenes Obst.

Gerade New York, die Stadt des Überflusses und des großen Geldes, ist ein Eldorado für Freeganer. "Es ist erstaunlich, was Supermärkte und Restaurants einfach wegwerfen. Häufig nur, weil sich das Aussehen der Nahrungsmittel nach ein paar Tagen ändert", meint der Ernährungswissenschaftler Brian Halweil vom Umwelt-Institut Worldwatch in Washington.

Zwischen 30 und 40 Prozent der Nahrungsmittel wandern in den USA in den Müll. Nach Angaben des amerikanischen Landwirtschaftsministeriums sind das mehr als 40 Milliarden Kilo pro Jahr. Diese Verschwendung wird allerdings nicht mehr nur in kleinen Zirkeln von Wissenschaftlern angeprangert.

Das Buch "Fast Food Nation" des Autors Eric Schlosser, das von den schlechten Essgewohnheiten der Amerikaner handelt, avancierte zum Bestseller, ebenso wie der Kinofilm "Super Size Me" - eine kritische Abrechnung mit der Schnellrestaurantkette McDonald‘s.

Für viele Freegan-Fans geht es in jedem Fall um ein Stück "Wirtschaft von unten", die im Schatten der glitzernden Bürotürme und Bankenpaläste New Yorks sprießt. Zwar wissen die Organisatoren noch nicht einmal genau, wie viele Mitglieder Freegan hat.

Pappbecher für die Party

Doch die wachsende Zahl von Leuten, die sich für nächtliche Streifzüge an verschiedenen Treffpunkten der Stadt einfinden, zeigt, dass Freegan offenbar in eine Marktlücke gestoßen ist. Es ist der Überdruss an der Wegwerfgesellschaft, aber auch die Verlockung, in einer der teuersten Städte der Welt, in der ein Restaurantbesuch sogar für eine durchschnittlich verdienende Familie oftmals unerschwinglich ist, auf relativ einfache Art und Weise Geld zu sparen.

An einem windigen Herbstabend trifft sich ein gutes Dutzend Freeganer im feinen Viertel der Upper East Side New Yorks: Vor den Eingängen von Fast-Food-Restaurants, Supermärkten und Bäckereien türmt sich der Müll. Das ist für Ron Brown wie Weihnachten.

Verzückt packt der 23-jährige Student zwei Dosen Spargel in eine Plastiktasche. Eine Straßenecke weiter findet er vor einem Starbucks-Cafe in der Lexington Avenue eine ganze Charge ungebrauchter Pappbecher. "Die kann ich für meine nächste Party brauchen", sagt Brown. Er ist erst zum zweiten Mal dabei, doch schon überzeugter Freegan-Anhänger.

"Sicherlich muss man sich überwinden, im Müll zu wühlen. Auch die Leute gucken manchmal etwas komisch. Die halten mich für einen Obdachlosen. Doch am Ende lohnt es sich", sagt der junge Mann. Gelohnt hat es sich auch für Lorna Quinn. Die 25-Jährige hat in einem an der Straße abgestellten Rollkoffer einen modischen Rollkragenpullover gefunden. "Für so ein Stück müsste ich in einem Kaufhaus mindestens 35 Dollar zahlen," sagt die Freegan-Anhängerin.


(SZ vom 9.12.2006)
http://www.sueddeutsche.de/,tt2m5/wirtschaft/artikel/336/94242/

Gemüseeintopf aus dem Container

Autor: Achim Stößer | Datum:
Von Philipp Albrecht. Aktualisiert am 09.06.2009

Der Trend hat nichts mit der Wirtschaftskrise zu tun: In Zürich sollen offenbar immer öfter die Container der Lebensmittelläden geplündert werden.

Flink greift die Hand in die Mülltonne und fischt reichlich Gemüse raus. Einen faulen Apfel wirft sie zurück, aber die Karotte sieht noch gut aus. Schnitt. Zwiebelringe brutzeln im heissen Öl, eine Kelle schiebt sie in der Pfanne hin und her. «Jetzt wird gekocht», sagt eine Stimme aus dem Off. «Gemüse wird geschnippelt. Heute gibt es vier Gänge: Gemüsepfanne, Kartoffelpüree, Gurkensalat und zum Nachtisch Obstdessert.» Filme wie jener des deutschen Umweltschutzvereins Aktion Umwelt gibt es auf Youtube zuhauf. Die Botschaft ist überall gleich: Die Müllcontainer vor den Supermärkten sind prall gefüllt mit Essbarem, bedient euch!

In der linksalternativen Szene ist Containern zu einem regelrechten Sport geworden. Die Tatsache, dass die Wegwerfgesellschaft tonnenweise Abfall produziert, der eigentlich gar keiner ist, führte dazu, dass immer mehr Leute am Eingang des Supermarkts vorbeigehen, um sich aus dem Container hinter dem Laden zu bedienen. In den USA kennt man das Phänomen des Containerns bereits seit Mitte der Neunzigerjahre. Über Deutschland gelangte es nun auch in die Schweiz. Im nördlichen Nachbarland wird das Containern nicht mehr nur in Blogs und Foren, sondern inzwischen auch in Fernsehreportagen thematisiert. Ganze Kamerateams begleiten Studentinnen, die mit dem Fahrrad zu Lidl, Edeka und Co. fahren und im Hinterhof den Container durchwühlen.

Jede Menge Lachs zu Weihnachten

P. wohnt mit rund 30 anderen in einem besetzten Haus im Kreis 2 und sucht mit seinen Mitbewohnern regelmässig die Container der Quartierläden in Wollishofen und Leimbach heim. «Eine Supersache ist das», schwärmt der 29-Jährige. «Die grosse Mehrheit der Container ist frei zugänglich, und wenn mal einer abgeschlossen ist, gehen wir einfach zum nächsten.» Ein Schlaraffenland! Es gebe so viele Lebensmittelläden, schwärmt P., «irgendeiner hat immer etwas».

Die antikapitalistischen Motive der sogenannten Freeganer (siehe Kasten) könne er gut nachvollziehen, sagt P., er selber mache es aber lediglich aus Spass. Auch mit Sparen habe es wenig zu tun, obschon sein Einkommen aus der vom Sozialamt vermittelten temporären Stelle eher bescheiden ist. Und Veganer ist er schon gar nicht, sonst hätte ihm der Festschmaus letzte Weihnachten kaum gemundet. «Das war ein Jackpot», erinnert sich P. Jede Menge Lachs habe man verputzt und mindestens 50 Büchsen Sardinen mitgenommen. Ausgerüstet mit Harassen und Rucksäcken, manchmal mit einem geliehenen Auto, versorgen P. und seine Mitbewohner das ganze Haus mit Essen. «Meistens finden wir Brot und Salat, viel Gemüse, manchmal Würste oder fertige Sandwiches.»

«Container sind gesichert»

In der Regel seien sie am Wochenende unterwegs, so P. Dann stossen sie auf Ware, die am Samstag keinen Abnehmer mehr fand und am Montag nicht mehr in den Verkauf gebracht werden darf. Oft finden sie Produkte vor, die Risse in der Verpackung aufweisen, weil sie vermutlich auf den Boden gefallen sind. Die Aktion Umwelt nennt die Gründe der vollen Supermarktcontainer in Deutschland: Produktionsfehler, Überproduktion, abgelaufenes Mindesthaltbarkeitsdatum und Platzmangel in den Regalen.

Hierzulande erstaunt es, dass überhaupt Lebensmittel in den Containern der Detaillisten wie Coop oder Migros landen. Sollten die aussortierten Waren nicht bei sozialen Institutionen wie etwa Tischlein deck dich landen? Doch, sagen auf Anfrage Migros, Coop und Aldi. Und Containern sei bei ihren Filialen überhaupt kein Thema: «Der Umgang mit nicht verkaufter Ware ist klar geregelt, sie landet nicht im Container hinter der Filiale», sagt Coop-Sprecher Nicolas Schmied. «Container der Migros sind gesichert und in einem der Öffentlichkeit nicht zugänglichem Bereich platziert», erklärt Migros-Zürich-Sprecherin Eve Pfeiffer. Auch Silvia Manser von Spar Schweiz bekräftigt, dass «keine Massenware, die noch geniessbar ist, im Container landet». Durch frühzeitiges Reagieren bei Überbeständen werde die Ware in andere Spar-Märkte verschoben oder verbilligt an die Mitarbeitenden verkauft.

P. kann über diese Erklärungen nur lachen. Besonders in den Containern von Coop und Migros sei die Auswahl gross. Auch zeigt ein Augenschein in mehreren Quartieren, dass die Mülltonnen einer Mehrzahl von Lebensmittelläden weder abgeschlossen noch unerreichbar sind. P. solls recht sein. Solange die Grossverteiler verleugnen, dass sie noch geniessbare Lebensmittel in ihren Containern entsorgen, haben er und seine Mitbewohner reichlich zu essen. Dann sollte es auch nächste Weihnachten wieder für einen Festschmaus reichen – mit Lachs und allem Drum und Dran.

http://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/stadt/Gemueseeintopf-aus-dem-Container/story/23471795