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Pressespiegel:
Kraft durch Milchfreude

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Kraft durch Milchfreude

Autor: Achim Stößer | Datum:
Die NZZ liefert einen interessanten Streifzug durch Jahrzehnte der (Schweizer) Milchpropaganda, mit Kinderindoktrination und Zwangsernährung: Schulmilch, Heidi, Butterbrot, was des Rinderausbeuters Herz im "Land von Galaktophagen" begehrt.

Leider bleibt das, was wirklich hinter der "Milch" steckt, die Tierausbeutung, unerwähnt.

Heilige Kuh Milch

Autor: Achim Stößer | Datum:

15. Juni 2008, NZZ am Sonntag

Sie ist der Inbegriff von Gesundheit. Sie zu kritisieren, tabu. Wie Bauern und Politiker den Mythos Milch am Leben erhalten.

Von Jost Auf der Maur


Die Glocke zur grossen Pause am Vormittag um zehn Uhr füllt schrill die Gänge im Hebelschulhaus St. Georgen. Fräulein Hongler schliesst das Realienbuch «St. Gallen – meine Heimat» und macht unter violetten Dauerwellen ihr freundliches Frau-Holle-Gesicht. Von der Schoggi-Fabrik Maestrani vis-à-vis riecht es süss und schwer nach Minor-Prügeli. Die habe angeblich schon der König Umberto gern gehabt, weil darin italienische Haselnüsse mit der guten Schweizer Milch vereint sind. Jedenfalls klopft es jetzt an der Türe der Klasse 2b. Felix Krummenacher, längst ein angesehener Arzt, der sich heute Felix-Georg nennt, muss öffnen; er sitzt ja auch da vorne rechts, von hinten gesehen, und ist gern der Erste. Die Tür geht auf, und mitten in die hochverdiente Pause scheppert samt Servierboy die Frau mit der Milch. Mit der Pausenmilch, lauwarm, abgefüllt in kleine Gläser mit Alu-Deckel.

Zwangsernährung

Auf der Milch kräuselt sich ein kleiner fetter Pelz. Bevor jemand aus der 2b auf den Gang und über die Treppe hinunter in die Freiheit des Pausenplatzes rennen darf, muss nun diese Milch, Schluck für Schluck, unter Aufsicht, weil so gesund, gerade im Winter, einem der kalten Winter in den frühen 1960er Jahren, getrunken werden. Eine Form der Zwangsernährung. Widerstand ist undenkbar. Undenkbar wie beim Lebertran. Undenkbar wie beim Zwanzigrappenstück, das in der Religionsstunde dem Nicknegerli fürs zu späte Kommen zu «schenken» ist. Weil bei uns Milch und Honig fliessen. Geld für die Afrika-Mission, die röm.-kath. natürlich. Und China, weil dort die Kommunisten Nonnen foltern.

Eine Milchallergie reklamiert damals niemand für sich, aber für den Preis von zwei Bärendreck-Männchen leert Paul Knill einem blitzschnell das lauwarme Glas. Später müssen – da kann einem der Knill nicht mehr helfen – ins Schönschriftheft Sätze über das schweizerische Schulwandbild «Die Alphütte» geschrieben werden. «Der Senn macht aus der Kuhmilch grosse Käse.» Und dann folgt das allen unbekannte Wort Laib: «Die Käselaibe lagern im kühlen Keller.» In der Vorlesestunde erfahren wir, dass das behinderte Grossstadtmädchen Klara auf der Alp bei Heidi dank der guten Milch wieder geheilt wird. Fräulein Hongler bringt Rahm mit in die Schulstube, alle dürfen an der Schleuder drehen, bis kein Rahm mehr da ist: Die Butter wird auf die Scheiben eines frischen Laibs (aha!) Brot gestrichen, gestiftet von der Bäckerei Eberle.

Diese Milchgeschichten ereignen sich nicht zufällig. Kaum der Mutterbrust entwöhnt, wird der Mensch im Milchland Schweiz seit dem Jahr 1920 Tag für Tag von der Propagandazentrale der schweizerischen Milchwirtschaft erzogen. Diese Zentrale heisst heute salopp Swissmilk und hat jährlich über 22 Millionen Franken allein für das sogenannte Basis-Marketing in der Tasche, um uns zu überzeugen, dass Milch gesund und gut, gut und gesund ist. Seit 1992 lässt Swissmilk die Werbekuh Lovely auf Plakaten und TV-Spots springen, stemmen und turnen. Auf die Euro hat sie mit ihren Kolleginnen sogar die La-Ola-Welle eingeübt.

88 Jahre Propaganda: «Trinkt Milch! Esst Milchprodukte! Milch macht stark. Milch macht manches wieder gut.» Das hat Folgen. Der Mensch im Milchland Schweiz verzehrt jetzt 405 Liter Vollmilch im Jahr, gern auch in Form von Joghurt, Butter, Rahm und – immer mehr – Käse. Eine unglaubliche Menge, so viel wie noch nie. Ein Land von Galaktophagen ist entstanden. Und das in einem Umfeld voll von Eistee, Coca-Cola, Red Bull.

Pakt geschlossen

Eines der zwei Geheimnisse dieses Erfolgs ist der Pakt, den die Bauern und Politiker in den 1960er Jahren geschlossen haben, und zwar mit den Gesundheits- und den Erziehungsbehörden. Sie sind sich einig, dass Milch gut ist für unser Land, gut für unsere Kinder, gut für unsere Gesundheit. Es gibt in der Schweiz zu kaum einem Thema so viel Einigkeit. Milch wird zum Medium einer Art geistiger Landesverteidigung heimischer Nahrungsmittelproduktion. Bauersame, Politik und Gouvernement wollen eine «neutrale Milchpropaganda» fördern. Neutral heisst in diesem Fall, dass nicht für ein einzelnes Produkt, sondern für die Gesamtheit aller Milcherzeugnisse geworben werden soll.

Mit dem noch jungen Instrument der Marktforschung wird in den sechziger Jahren menschlichen Bedürfnissen nachgespürt. Vor allem aber kann dank dem Pakt die Kinderwelt propagandistisch penetriert werden: Die Schulen gelten als erstklassiges Aktionsfeld. Das erschöpft sich eben nicht nur in der lauwarmen Pausenmilch mit dem Pelzchen obenauf. Gibt es übrigens in dieser grausamen Form nicht mehr. Es werden bis heute fleissig Lehrmittel und Unterrichtshilfen eingeschleust, stufengerecht vom Kindergarten bis zur Oberstufe.

Megamilchschauen und Milch-Mobile sind unterwegs. Es heisst: «Milch macht schlank, macht stark, macht schlau.» Diese durchdachte und heute geübte Form der Indoktrinierung künftiger Galaktophagen erinnert an die politische Erziehung im roten Osten während des Kalten Krieges. In diesem Sinn lässt sich die Milch-Propaganda von heute als kurioses Überbleibsel einer ungemütlichen Epoche betrachten.

Die Schweiz hat zwar ihre Toblerone und ihre Ovomaltine, ihre Knorr und ihr Sugus an tüchtigere Unternehmen im Ausland verloren. Was unsere Welt im Innern aber immer noch zusammenhält, das ist die Milch. Da sind wir – endlich einmal – Selbstversorger. Unsere Milch von unseren Kühen, die auf unseren Weiden und Wiesen weiden und von unseren Bauern gemolken werden. Milch ist eine heilige Kuh. Vegane Gegenpropaganda, die der Milch zum Beispiel die Schuld an Mittelohrentzündungen und Eierstock-Karzinomen nachzusagen versucht, hat da nicht den Hauch einer Chance, geglaubt zu werden.

Das zweite Geheimnis des Erfolgs ist die mythologische Überhöhung. «Milch ist unser Lebenssaft», Werbespruch 1940. Wer Milch benötigt, gehört zur Klasse der Säuger. Zweikammeriges Herz, Lungen, Wirbelsäule, Milchdrüsen. Und vor allem: Grosshirn, medusenhaft, glibberig, eiweissabhängig – ein Milchprodukt. Milch ist das Sekret der obersten Kaste in der Schöpfungspyramide, Mittel zum Leben, Nahrung der ersten Stunde. Und manchmal auch der letzten, wenn ein magenkranker Milliardär sich von Ammen ernähren lässt. Milch als Betriebsstoff der Schöpfung auf dem Weg zu Höherem.

Der Milch schliesslich werden die «Ursprünge der Tatkraft» zugedacht. Ralph Bircher schreibt 1970 in seinem Beitrag zur Ernährungsgeschichte, durch Habermus und Milch seien die Eidgenossen so «genügsam, wetterhart, bärenstark, zäh und unheimlich flink und findig» geworden. Daraus weht uns die Sehnsucht nach Vorfahren an, die es so wohl nie gegeben hat.

In diesen Tagen unterrichtet Swissmilk wieder unsere Lehrerschaft: «Wozu braucht es einen Tag der Pausenmilch? Weshalb ist Pausenmilch wichtig? Was können Eltern, Lehrerinnen und Lehrer für eine gesunde Ernährung übers Jahr tun?» Die Antworten sind eindeutig: Milch trinken, denn «Schweizer Milch bürgt für Natürlichkeit, umweltbewusste Produktion, gute Tierhaltung, Nähe und Sicherheit.» Sicherheit und Nähe? Wie an der Mutterbrust? Der nächste Tag der Pausenmilch ist der 6. November 2008.

http://www.nzz.ch/nachrichten/panorama/heilige_kuh_milch_1.759478.html