29.05.2004 - Politik / Kommentare
Leitartikel: Eine kranke Mutter, viele krank gemachte Kinder
VON ANDREAS UNTERBERGER
Eine schwer gestörte Mutter hat ihre Tochter umgebracht, sie ver hungern lassen. Esoterischer Sekten-Wahn und hysterischer Vegetarier-Wahn waren dabei kausal.
Auch wenn die Anhänger beider Wahnwelten derzeit deutlich an Zulauf gewinnen, sollten wir uns aber doch vor einem anderen Wahn hüten: nämlich dem einer allgemeinen Eltern-Entmündigung, eines Jeder-muss-jeden-bespitzeln-Klimas. So tragisch der Tod des ausgedörrten Mädchens auch ist, so klar ist doch, dass im schwierigen Eltern-Kinder-Geflecht andere Gefahren viel häufiger sind als solche schweren Verhaltensstörungen einer Mutter.
Viel öfter leiden Kinder darunter, dass ihre Eltern ihnen Geschenke statt Zeit widmen, dass sie abgeschoben werden, dass ihnen niemand bisweilen auch das aus dem "Ja" zum Kind folgende wichtige Wort "nein" sagt.
Erschütternde Recherchen der "Presse"-Redaktion haben gezeigt, wie leicht Kinder zu Alkohol und Zigaretten kommen, dass in ganzen Wiener Bezirken noch nie einer jener hemmungslosen Wirte bestraft worden ist, die sich durch den Alkoholverkauf an Kinder bereichern. Kaum Konsequenzen gibt es auch für jene (Kinder-)Lokale, in denen regelmäßig Drogen verkauft werden. Der Drogenkleinhandel wird von Exekutive und Gerichten flächendeckend toleriert, angeblich weil man ihn unter Kontrolle behalten will und nur an den großen Dealern interessiert ist.
Die Werbebranche ist in einen manischen Jugendkult verstrickt, offenbar weil sie glaubt, dass man nur den ganz Jungen Markengläubigkeit wie eine Religion einbläuen kann. Medien kämpfen für immer mehr Kinderrechte (Motto: "Bis wann dürfen dir deine Eltern verbieten, beim Freund zu übernachten?"). Alle paar Jahre wird im Irrglauben, sich damit populär zu machen, das Wahlalter noch weiter gesenkt - als ob 18-Jährige ein Interesse hätten, dass auch 16-Jährige wählen dürfen -; demnächst werden wohl schon Zehnjährige wählen.
Paralleles hat sich in den Schulen entwickelt: Dort ist binnen weniger Jahre die Autorität der Lehrer marginalisiert worden. Eine Fülle juristischer Möglichkeiten gegen jede ihrer Maßnahmen und Beurteilungen wurde geschaffen. Es wurde zur verbreiteten Schuldoktrin erhoben, dass man doch einem Kind nicht die Chancen nehmen könne, indem man ihm die Matura verweigert. Als ob die dadurch rapide entwertete Matura noch irgendeine Chance eröffnete, außer vielleicht die auf eines der perspektivlosen Billigststudien an einer Universität.
Und wenn einmal eine Schule wagt, den Kindern beispielsweise Bekleidungsvorschriften zu machen, fällt die halbe Nation voll Hohn über die zurückgebliebenen Provinzler her.
Gewiss, Kindergeld und Elternteilzeit sind hilfreich für die Eltern. In österreichischen Schulen hat jeder Lehrer weniger Kinder zu betreuen als seine Kollegen in den meisten anderen Ländern (solang wir uns das - durch Schulden auf Kosten eben dieser Kinder - noch leisten können).
Was wir aber nicht mehr haben, ist ein gesellschaftlicher Konsens über Sinn und Zweck von Erziehung und Bildung. Was wir nicht haben, ist Respekt für die Lebensentscheidung von Müttern oder (viel zu selten) Vätern, der Kinder wegen das Geldverdienen oder die Karriere zu unterbrechen. Was wir nicht mehr haben, ist das Wissen um die (natürlich nie bewusste) Sehnsucht der Kinder nach liebevollen, aber konsequenten Grenzen, die ihnen jemand setzt, und um deren Notwendigkeit, weil nur so das Fertigwerden mit den Grenzen im späteren Leben trainiert werden kann.
Wir haben die Macht von Eltern und Lehrern reduziert, wir haben die Rechte (und Besitztümer) der Kinder spürbar vermehrt. Haben wir damit die Kinder glücklicher gemacht? Sind sie jetzt tauglicher fürs Leben als ihre Vorfahren?
Zweifel sind erlaubt. Wir sollten darüber intensiv diskutieren, und weniger über geistesgestörte Einzelfälle.
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