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Vom 'humanen' Schlachten

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Vom 'humanen' Schlachten

Autor: martin.p | Datum:
Interessant, wie Tierschützer eine autistische Wissenschaftlerin loben, weil sie die für "sanftere Schlachtmethoden" kämpft. Diese meint ja auch, sie würde "Fehler" in Schlachthöfen dadurch finden, dass sie sich in die Tiere hineinversetzt. Das macht sie aber wahrscheinlich nur solange denen das Lebenslicht ausgeknipst wird. Dafür hat sie auch gleich die Ausrede, dass der natürliche Tod viel grausamer sein. Fragt sich nur, ob "in der Natur" soviele Tiere sterben würden und dann auch noch um verpackte Leichenteile zu enden?

Autistische US-Wissenschaftlerin kämpft für sanftere Schlachtmethoden

Autor: martin.p | Datum:
Fort Collins (dpa) - Es fehlt nur der breitkrempige Hut:
Aufgenähte Mustangs galoppieren über das himmelblaue Westernhemd. Die
welligen Haare sind sorgsam aus dem Gesicht gekämmt - von Make-up
keine Spur. Mit schwarzem Halstuch, in Bluejeans und Fransen
besetzten Lederschuhen sieht Temple Grandin wie ein raubeiniger
Cowboy aus. Doch wenn verstörte Rinder über steile Lade-Rampen in
finstere Schlachthöfe stolpern, pocht ihr Herz bang und schnell und
die eigenen Glieder sind wie gelähmt.

Die Professorin für Verhaltensforschung an der Colorado State
Universität in Fort Collins (US-Bundesstaat Colorado) spürt, was Kühe
in den letzten Lebensminuten empfinden. „Angst", sagt die blasse Frau
leise, „ist das Grundgefühl für Tiere". Ihre gehetzten Augen weichen
vor direktem Blickkontakt aus. „Angst ist auch das Grundgefühl für
autistische Menschen - wie mich."

Temple Grandin ist überzeugt, dass ihr schreckhaftes Nervenkostüm
dem von Kühen oder Pferden mehr ähnelt, als dem „normaler" Menschen.
Und sie nutzt die besondere Seelenverwandtschaft, um die Qualen von
Millionen von Schlachttieren zu lindern. Rindern, Schweinen und
Hühnern das Sterben zu erleichtern, hat sie zu ihrer Lebensaufgabe
gemacht. Lob und Unterstützung bekommt die sensible Wissenschaftlerin
dabei nicht nur von Tierschützern, sondern auch von mächtigen Kunden
der US-Fleischindustrie wie der Hamburger-Kette McDonald's.

Knapp drei Jahre war Temple Grandin alt, als sich erste
autistische Symptome zeigten: Sie konnte nicht sprechen, hatte
unkontrollierte Wutausbrüche, wiederholte dieselben Verhaltensweisen
wieder und immer wieder. Autismus ist eine komplizierte
Entwicklungsstörung des zentralen Nervensystems, die wahrscheinlich
nicht heilbar ist. Trotz umfangreicher Forschung sind ihre Ursachen
noch nicht vollständig geklärt. Den Betroffenen gelingt es meist
nicht, Sinneswahrnehmungen zu verarbeiten, was zu schweren
Beziehungs- und Kommunikationsproblemen führt.

Als Kind war sie gefangen in entsetzlichen Eigenwelten von Angst
und Einsamkeit. Sie konnte ihre Umgebung nicht verstehen. Und sie
konnte sich nicht verständigen. Aus Furcht und Verzweiflung habe sie
geschrien, gebissen, wild um sich getreten, erzählt Temple Grandin,
- wie eine verschreckte Antilope, die im nächsten Moment von einem
Raubtier gefressen wird. „Mein Nervensystem war immer auf dem Sprung
sich gegen einen Löwen zu verteidigen, selbst wenn gar keiner da
war."

Auch Kühe sind Beutetiere. Als Teenager besuchte Temple Grandin
die Ranch einer Tante in Arizona und lief hinunter zum Korral, wo
Cowboys die Rinder zu einer hölzernen Haltevorrichtung trieben.
Bewegliche Längspaneele klemmten die einzelnen Tiere in eine Art
Schraubstock ein, damit sie geimpft werden konnten.
Erstaunlicherweise wurden die erregten Kühe sichtbar entspannter und
friedlich. Grandin war fasziniert. Während der Pubertät litt sie
besonders unter nervösen Angstzuständen. So überredete das junge
Mädchen die verblüffte Tante, sie selbst in die „squeeze chute" zu
pressten. Grandin erlebte denselben Effekt wie zuvor die Rinder: Sie
wurde ruhiger und ausgeglichen.

Als Erwachsene konstruierte sie einen ähnlichen Druckapparat für
sich, der heute in einigen US-Spezialkrankenhäusern zur Behandlung
autistischer Kinder verwendet wird. So haben Kühe Temple Grandin
geholfen, ihre eigenen Dämonen zu zähmen. Für die Medizin ist sie
„high-functioning autistic", eine autistische Person mit hohem
Entwicklungsniveau. Unterstützt von Therapie und Anti-Depressiva
gelang es ihr, aus dem Teufelskreis Autismus auszubrechen. Dankbar
widmete sie ihr neues Leben sterbenden Tieren.

Drei Bücher hat Grandin geschrieben. Sie ist im nationalen
Fernsehen aufgetreten und hält Vorträge in aller Welt darüber, wie
Farmen und Schlachthöfe humaner funktionieren können. Seit mehr als
zwanzig Jahren entwickelt sie „livestock equipment" - tiergerechte
Anlagen für die Viehzucht wie Pferche, Gatter und Rampen. Ein Drittel
aller Schlachthöfe in den USA und zahlreiche in Kanada und Australien
sind heute mit Anlagen nach Grandins Design ausgestattet.

Oft bewirken schon kleine Veränderungen einen großen Unterschied.
Klobige Hufe rutschen auf glatten Metall-Rampen aus. Aufgänge aus
zerfurchtem Zement verhindern dagegen, dass Tiere stürzen und sich
verletzen. „Es ist unmöglich verbesserte Bedingungen zu erreichen,
wenn Kühe permanent scheuen und sich nicht bewegen wollen."

Vor Temple Grandin hatten Planer von Ställen und Halteanlagen
offenbar wenig darüber nachgedacht, warum sich die Tiere sträuben.
Rinder fürchten sich nicht vor denselben Dingen wie Menschen, hat die
Verhaltensforscherin beobachtet. Ihre Methode sei simpel: „Ich
versetzte mich einfach in die Kuh hinein und schaue durch ihre
Augen."

Temple Grandin denkt in Bildern. Eines der unergründlichen
Mysterien des Autismus, so schreibt sie in ihrer Biografie „Thinking
in Pictures" („In Bildern denken"), ist das bemerkenswerte räumliche
und visuelle Vorstellungsvermögen der meisten autistischen Menschen,
deren verbale Fertigkeiten oft nur schwach entwickelt sind. „Worte
sind wie eine zweite Sprache für mich. Ich übersetze beides,
gesprochene und geschriebene Worte zuerst in Farbfilme, komplett mit
Ton, die wie ein Video in meinem Kopf ablaufen. Wenn jemand zu mir
spricht, werden die Worte sofort in Bilder übersetzt."

Auch bei Kühen ist der Sehsinn stark ausgeprägt. Schon ein achtlos
in den Pferch geworfener Pappbecher lässt sie zurückweichen. Starke
Kontraste zwischen Hell und Dunkel, tanzende Lichtreflexe auf nassem
Asphalt oder die im Wind schwingende Kette eines Gatters versetzt sie
in Panik. Unbeleuchtete Hallen betreten die Tiere nur zögerlich. Wenn
über dem Tor aber eine zusätzliche Lampe montiert wird, treten sie
freiwillig ein.

Am liebsten laufen Rinder in kurvigen Bahnen. „Dann denken sie,
dass sie dahin zurückkehren, wo sie herkamen", hat Temple Grandin
herausgefunden. Darum legt sie Verladeanlagen zum Beispiel
spiralförmig an. Bereitwillig trotten die Kühe hindurch, ohne dass
die Treiber ein Elektroschock-Gerät benutzen müssten - stressfreier
für Mensch und Tier.

„Temple hilft der gesamten Fleischindustrie, unsere Arbeit besser
zu machen", lobt Mike Chabot, Manager des „Excel" Schlachthauses in
Fort Morgan/Colorado. 1958 verabschiedete der amerikanische Kongress
ein Gesetz, das brutale Praktiken in Schlachthöfen verbietet. Doch
der „Humane Slaughter Act", beklagt Bruce Friedrich vom
Tierschutzverein „People for the Ethical Treatment of Animals" (PETA)
in Washington, sei von der Industrie nicht umgesetzt worden. „Und für
die neun Milliarden Hühner und Truthähne, die pro Jahr in den USA
getötet werden, gilt die auf Säugetiere beschränkte Regelung ohnehin
nicht."

Im Aufrag des US-Ministeriums für Landwirtschaft kontrollierte
Temple Grandin 1996 zehn Fleischfabriken des Landes und berichtete
über schreckliche Zustände: Rinder wurden bei vollem Bewusstsein zum
Ausbluten aufgehängt. Lebendige Hühner landeten in der Mülltonne.
„Schlechte Behandlung war zur Norm geworden", lautete das Fazit ihres
Reports. Seit Jahrzehnten hatten sich Tierschützer vergeblich für
eine Veränderung der Gesetze eingesetzt. Jetzt suchten sie nach einem
neuen Ansprechpartner, zum Beispiel einflussreiche Großkunden der
Fleischproduzenten.

„McDonald's ist ein Qualitätsunternehmen", betont Firmensprecher
Bob Langert. Der Qualitätsanspruch beginne auf der Farm und ende an
der Verkaufstheke. Ein humaner Umgang mit den Tieren, gehöre
selbstverständlich dazu. Doch bis sich Temple Grandin in die
Diskussion einschaltete, gab es keinen „objektiven Weg" Brutalität in
Schlachtereien zu messen. Emotionale Stellungnahmen der
Tierschutzvereine wie „Schlachthöfe sind grausam" führten nicht
weiter.

Temple Grandin entwickelte einen Sechs-Punkte-Katalog, um
Schlachthöfe zu überprüfen: (1) Wieviel Prozent der Tiere werden beim
ersten Versuch getötet? (2) Wieviel Prozent sind beim Ausbluten noch
bei Bewusstsein? (3) Wieviel Prozent der Kühe muhen? Lautäußerungen
sind ein Zeichen für Stress oder Fehlbehandlung durch das Personal.
(4) Wieviel Prozent werden mit einem Elektroschock-Gerät gefügig
gemacht? (5) Wie hoch ist der Prozentsatz der Tiere, die ausrutschen
oder (6) fallen? Pro Tier wird entweder Ja oder Nein angekreuzt.

„Temple verfolgt einen rein praktischen, wissenschaftlichen
Ansatz. Bei ihr gibt es keine Grauzonen", weiß Bob Langert. Ihr
enormes Fachwissen und ihre persönliche Disposition „qualifizierten
sie besser als jeden anderen auf der Welt", Schlachthöfe zu
inspizieren. Und Tierschützer wie PETA's Bruce Friedrich sind
derselben Meinung. 1999 kontrollierte Temple Grandin 27 von 41
Schlachthöfen, die Rindfleisch an McDonald's liefern. Mehrere
Fleischereien erhielten Verwarnungen. „Und als einer Großschlachterei
der Liefervertrag wegen Fehlverhalten gekündigt wurde", sagt Grandin
schlicht, „verstand die Industrie, dass sie den Tierschutz ernst
nehmen muss."

Die von ihr definierten Richtlinien „American Meat Institute
Guidelines" gelten heute als Meilenstein für die Qualitätsüberprüfung
von US-Schlachthöfen. Mittlerweile schult Temple Grandin
Betriebsprüfer, die ihr einen Teil des wachsenden Arbeitsaufwands
abnehmen. Denn nach Angaben von Langert verlangt sein Unternehmen,
dass die Zulieferer in aller Welt die Grandin-Norm erfüllen. Außerdem
zählen inzwischen auch die Fast Food Giganten Wendy's, Burger King
und Kentucky Fried Chicken zu Temple Grandins Klienten.

„Ich werde oft gefragt, ob Tiere wissen, dass sie im Schlachthof
sterben müssen", berichtet die Wissenschaftlerin. „Ich glaube es
nicht." Doch selbst wenn die Tiere es ahnten, tröstet sich Grandin
mit dem Gedanken, dass sie persönlich den vergleichsweise sanften Tod
im Schlachthof dem in freier Wildbahn vorziehen würde. „Die Natur ist
so grausam", sagt sie leise und denkt an die Schreckensvisionen ihrer
Kindheit zurück: „Eine Antilope, die bei lebendigem Leibe von einem
Löwen verschlungen wird, möchte ich nicht sein."


© dpa - Meldung vom 23.01.2003