VERBRECHEN
Erbe aus der Urzeit
Von Cordula Meyer und Andreas Ulrich
Immer wieder müssen Kinder sterben, weil sie der neuen Partnerschaft im Wege stehen oder Eltern überfordert sind - so wie der zweijährige Tim aus Elmshorn.
Sechs Tage lang haben sie nach Tim gesucht: rund 170 Polizisten, Teams mit Spürhunden, auch Taucher. Monya H., 21, aus dem schleswig-holsteinischen Elmshorn hatte ihren zweijährigen Sohn als vermisst gemeldet. Er sei auf unerklärliche Weise aus der Wohnung verschwunden, während sie geschlafen habe, sagte sie.
Am vergangenen Mittwoch dann fanden die Suchmannschaften das Kind - nach ersten Erkenntnissen der Ermittler soll der neue Lebensgefährte der Mutter, der Gelegenheitsarbeiter und Bautischler Oliver H., 38, Tim erschlagen haben. Er soll die Leiche dann in eine Sporttasche gepackt und im Anbau eines Hauses in der Nachbarschaft versteckt haben. Genug Zeit gab es, denn die Mutter hatte sich erst an die Polizei gewandt, als sie ihren Jungen schon mindestens zwei Tage lang nicht gesehen hatte. Ihr Lebensgefährte sollte auf ihn aufpassen.
Etwa hundert Kinder werden jedes Jahr in Deutschland getötet - die allermeisten von ihren Eltern oder deren Lebenspartnern, die sie misshandeln, vernachlässigen oder schlicht totschlagen. Sehr viel seltener ist ein Fremder der Täter. Und der Fall Tim beleuchtet ein weiteres erschreckendes Phänomen: Stiefkinder wie er sind ganz besonders gefährdet. "Nicht alle Kinder", sagt der ermittelnde Staatsanwalt Wolfgang Zepter, "wachsen auf der Sonnenseite des Lebens auf."
Peter Riedesser, Chef der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf, vermutet die Motive der Täter zwar vor allem in deren Persönlichkeitsstruktur und Kindheit. Generell seien "Stiefeltern besser als ihr Ruf. Sie sind ganz überwiegend ein Segen für die Familie" - besonders, wenn die Beziehungen stabil, die Eltern den Anforderungen gewachsen seien.
Aber in Extremfällen, so glauben Evolutionspsychologen, wirken andere Muster mit: Animalische Instinkte könnten dann jegliche Zivilisierung überdecken, ein Erbe aus der Urzeit könne den Nachwuchs in Gefahr bringen. Bei diversen Tierarten töten die Männchen häufig jene Nachkommen, die noch der Vorgänger gezeugt hat. Ein brutales Verhalten zur Sicherung der eigenen Gene.
Oliver H. hat ausgesagt, dass Tim in der Dusche ausgerutscht sei und er ihn erst am nächsten Morgen, am Mittwoch vorvergangener Woche, tot gefunden und dann weggeschafft habe. Doch der Obduktionsbericht passt nicht recht zu seiner Version, weshalb die Fahnder ihn als Täter verdächtigen: Rechtsmediziner diagnostizierten ein schweres Schädelhirntrauma, wahrscheinlich habe jemand dem Kind heftig auf den Kopf geschlagen. Auch wurde Tim vor seinem Tod wohl brutal geschüttelt. Hämatome am Mund deuten zudem darauf hin, dass der Täter dem Jungen mit Gewalt den Mund zugehalten hat.
"Wir sind auch nur Tiere", sagt der Evolutionspsychologe Harald Euler von der Universität Kassel. Der Professor erforscht, wie Urinstinkte das menschliche Verhalten bis heute prägen. Das Risiko, von den Eltern getötet zu werden, sei nach einer umfangreichen kanadischen Studie, für die über zehn Jahre hinweg Kindstötungen ausgewertet wurden, für Stiefkinder im Vorschulalter mindestens 40-mal höher als für leibliche Kinder. "Das ist ein so enormer Unterschied, wie wir es sonst in den Verhaltenswissenschaften nicht kennen." Besonders gefährdet seien Stiefkinder in den ersten zwei Jahren, ab dem sechsten Lebensjahr glichen sich Risiken für leibliche und Stiefkinder an.
"Es ist so, wie es im Märchen gesagt wird", so Euler: "Stiefkinder leiden in der Familie eher als leibliche." Stiefväter würden den angenommenen Nachwuchs häufiger misshandeln als leibliche Väter, Stiefmütter seien eher kühl. Dies erkläre, warum Stiefkinder das Elternhaus in jüngeren Jahren verließen als leibliche Kinder.
"Der neue Partner will die Frau - er nimmt das Kind notgedrungen als Kostenfaktor mit", sagt Euler. Fordere das Kind dann aber Zuneigung, Fürsorge, Zeit, reagiere der Vater wider Willen überfordert, und: "Wenn er das gibt, investiert er in die Gene eines anderen Mannes. In der Evolution können sich solche Männer nicht behaupten."
Die Evolutionspsychologen berufen sich auf Dutzende Säugetierarten, in denen Männchen gezielt Nachkommen töten. Das ist etwa bei Primaten wie den Hanuman-Languren oder bei Löwen so: Jedes Löwenrudel wird von Männchen geleitet, und wenn ein neues Männchen die Sippe übernimmt, versucht es oft, alle Jungen zu töten, die noch gesäugt werden - damit die Mütter schnell wieder paarungsbereit sind.
Doch können solche Triebe tatsächlich die Morde an Stiefkindern erklären? Sind die Regeln der Zivilisation so schwach, dass derart grausame Verhaltensweisen durchbrechen? Zumindest würden sie zur Eskalation beitragen, sagt Euler. Bis zum finalen Ausraster müssten freilich eine ganze Reihe von Faktoren hinzukommen: etwa Persönlichkeitsstörungen, Alkohol, Drogen, massive Beziehungsprobleme.
Männer wie der mutmaßliche Täter Oliver H. gehören nach Ansicht des Nürnberger Kriminalpsychologen Rudolf Egg zu den "Hochrisikopersonen": Vor allem bindungslose und etwa im Beruf gescheiterte Existenzen, die das Kind der neuen Frau nur notgedrungen tolerieren, "können zu einer Gefahr werden", sagt Egg.
Eine reife, selbstbewusste Frau könne ihr Kind dann schützen - aber nur, wenn sie dem Mann Grenzen aufzeige. Habe sie jedoch starke Angst, ihn zu verlieren, steige das Risiko für das Kind.
Zwar ist die Zahl der Kindstötungen in Deutschland seit Jahren leicht rückläufig, sie sank von 114 im Jahr 1995 auf 99 im vergangenen Jahr. Aber immer wieder erschüttern Einzelfälle die Öffentlichkeit, wie der Tod der siebenjährigen Jessica in Hamburg, deren Eltern das Mädchen Anfang des Jahres verhungern ließen.
Und in vielen Fällen sind Stiefkinder die Opfer. So
tötete im schleswig-holsteinischen Geest-hacht ein 33-Jähriger im August dieses Jahres den neun Jahre alten Sohn seiner Frau. Der Mann erwürgte sein Stiefkind. Vorher hatte er es mehrfach im Beisein seiner beiden leiblichen Kinder getreten und geschlagen - angeblich weil der Junge ständig log;
traten in Erfurt eine Mutter und ihr Lebensgefährte Ostern 2004 den zweieinhalb Jahre alten Jonny Lee zu Tode. An seiner Leiche fanden sich mehr als 30 Tritt- und Schlagspuren, vom Absatz eines Stöckelschuhs sowie von einem Männerschuh. Es ließ sich nicht mehr feststellen, wer von den beiden sich auf den kleinen Körper gekniet und dem Jungen dann den Mund zugehalten hatte;
quälte im Januar 2004 ein Pärchen aus Memmingen die dreijährige Karolina, das Kind der Frau, vier Tage lang zu Tode, unter anderem mit Feuerzeugen und Gürteln. Karolinas Leiche trug Spuren entsetzlicher Folterungen;
erschlug im vergangenen Jahr ein Duisburger die viereinhalb Jahre alte Tochter seiner Lebensgefährtin, weil sie angeblich die Beziehung zu dem neuen gemeinsamen Kind störte. Fast ein Jahr lang versteckte er die Leiche.
Zwar werden Kinder auch allzu oft von ihren leiblichen Vätern getötet - die Motive seien aber höchst unterschiedlich, so die kanadischen Experten Martin Daly und Margo Wilson: Während Stiefväter ihre Kinder überwiegend aus Wut erschlagen, töten leibliche Eltern ihre Kinder eher aus einem verqueren Leid heraus - und begehen anschließend vielfach Selbstmord. Dazu gehören Mütter, die psychisch krank sind und ihre Kinder nicht allein zurücklassen wollen, oder Väter, die ihre komplette Familie auslöschen, weil sie finanziell ruiniert sind. "Pervertiertes Mitleid" nennt Psychologe Egg dieses Phänomen.
Nach Ansicht von Katharina Abelmann-Vollmer vom Deutschen Kinderschutzbund können auch "schwierige Dynamiken" entstehen, wenn sich der neue Mann vom Kind der Frau abgelehnt fühlt. Zudem sind manche Stiefkinder durch den Verlust eines Elternteils problematischer als leibliche Kinder.
Dabei könnten sich Täter zunächst durchaus als liebevolle Ersatzväter gerieren, so Psychologe Euler. Das Wohlwollen sei freilich manchmal nur Mittel zum Zweck - weil Männer wüssten, dass sie die Mutter nur erobern, wenn sie mit dem Kind gut klarkommen.
Auch Tims Mutter Monya H. sagt, sie habe lange keinen Verdacht gegen ihren Lebensgefährten gehabt. Tim verbrachte oft mehrere Tage in der Wohnung von Oliver H., wurde eingesperrt, wenn der ungestört mit der Mutter zusammen sein wollte. Doch das reichte offenbar nicht für Misstrauen. Zumindest erzählte Monya H. den Fahndern, sie habe bis zum Schluss geglaubt, dass jeden Moment die Tür aufgehen und ihr kleiner Sohn zurückkehren würde.
http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,385852,00.html
21. November 2005