Freiland- und Bodenhaltung sollen Hühner glücklich machen. Doch das ist ein Irrtum. Große, gut ausgestattete Volieren wären viel besser.
Von Stefan Schmitt
Eng ist es in der Hühner-WG. Dreißig Damen der Gattung Gallus gallus teilen sich einen Käfig, der in der Grundfläche etwa anderthalb Meter im Quadrat misst. Nach einem Heim glücklicher Hühner sieht das nicht aus. Und als sich dann noch Henne Nummer 9773 - nennen wir sie Heidi - mitten ins Gewühl stürzt, ist das Gegacker groß.
Doch vielleicht lässt sich der Käfig ja noch ein bisschen kleiner machen. Lars Schrader, Leiter des Instituts für Tierschutz und Tierhaltung der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft (FAL) in Celle, demonstriert, wie er mittels Flügelschrauben die Dimensionen seiner »Kleinvolière« verändern kann. Hier lässt sich die Decke absenken, auf einen Meter Höhe hat er sie jetzt justiert: »Wir müssen schauen, was für die Tiere noch akzeptabel ist.«
Aber ist denn ein Käfig an sich akzeptabel? Die industrielle Hühnerhaltung gilt doch längst als Tierquälerei. Schrader schüttelt den Kopf. Ihm geht es darum, »Tiergerechtigkeit« herzustellen, »also Schäden, Leiden und Schmerzen zu verhindern und andererseits den Tieren zu ermöglichen, essenzielle Elemente des natürlichen Verhaltensrepertoires ausleben zu können«. Was hühnergerecht ist, das erprobt er gerade an Heidi und Konsorten. Eierproduzenten, Tierschützer und Politiker beobachten das Geschehen in Celle mit Argusaugen. Dabei ist die Marschrichtung bei der Hennenhaltung eindeutig festgelegt - raus aus Käfig und Legebatterie, hinein in die Freilandhaltung.
Zwar gibt es in Deutschland noch 33 Millionen Legehennen, die in konventionellen Käfigen hausen - ein Huhn nennt da nicht einmal eine DIN-A4-Blatt große Fläche sein Eigen. Doch seit Inkrafttreten der neuen Hennenhaltungsverordnung im März 2002 gilt: Deutschland steigt ab 2007 aus der Käfighaltung aus. Freiheit für das Federvieh - ein zentrales Ziel grüner Landwirtschaftspolitik ist erreicht und eine Forderung des Bundesverfassungsgerichts übererfüllt. Konventionelle Legebatterien erklärte es 1999 für mit dem Tierschutzgesetz unvereinbar, schränkte aber ein: »Der nationale Gesetzgeber ist grundsätzlich bereit, eine Käfighaltung zuzulassen.« Künast war es nicht.
Doch mittlerweile steht der Komplettausstieg wieder zur Disposition. Es geht um wirtschaftliche und politische Interessen. Und so erpresst der Bundesrat die grüne Bundesministerin, angeführt vom Land Niedersachen, Heimat eines Drittels aller Eier produzierenden Betriebe: Nur wenn Renate Künast vom völligen Käfigverbot für Legehennen abrückt, gibt der Rat sein Placet für eine andere Tierhaltungsverordnung, diejenige für Schweine. Deutschland fehlt im Saustall derzeit diese Regelung - Brüssel droht deshalb schon ab Januar 2005 mit Konventionalstrafen. Nun streiten Bund und Länder über die künftigen Wohnverhältnisse für über 40 Millionen Legehennen in Deutschland.
Zudem meldet sich die Wissenschaft vom Huhn zu Wort - mit einem Paukenschlag. So genannte alternative oder offene Systeme zur Legehennenhaltung, also Volieren-, Boden- und Freilandhaltung, seien weniger tierfreundlich, als die Bundesregierung glauben mache. Das totale Käfigverbot gilt als fragwürdig - Ausdruck einer übertriebenen Tierromantik. »Der Tierschutz ist als Anliegen ethisch, das heißt vom Menschen her, begründet«, gibt Hanno Würbel, Professor für Tierschutz und Ethologie an der Universität Gießen, zu denken, »und was Tiere zu ihrem Schutz brauchen, ist biologisch, das heißt vom Tier her, begründet.« Die biologischen Parameter nun sollen in Celle experimentell bestimmt werden. Die Hennen loten sie mit jeder videoüberwachten Bewegung aus.
Heidi macht sich breit. Sie presst ihren Körper leicht nach rechts auf den Boden, der mit Sägespänen bestreut ist. Sie scheint mit ihrem rechten Flügel vorwärts robben zu wollen. »Staubbaden«, erklärt Lars Schrader, »ist ein zentraler Bestandteil des natürlichen Verhaltensrepertoires.« Mit Sand reinigen die Vögel ihr Gefieder. Es gehört für sie ebenso untrennbar zum Tagesablauf wie das Scharren. Im Celler Modell lädt ein so genannter Einstreubereich aus Kunstrasen dazu ein. In herkömmlichen Hennenkäfigen hingegen besteht der gesamte Boden aus Draht- oder Plastikgitter, damit der Kot nach unten fallen kann, wo er gesammelt wird. Das war dann zwar hygienisch, aber wenig hühnerfreundlich. Mittlerweile ist es selbst unter Produzenten Konsens, dass die noch weit verbreiteten Kleinkäfige blanke Quälerei sind. Europaweit werden sie bis 2012 abgeschafft.
Ihr offizieller Nachfolger heißt »ausgestalteter Käfig« und bietet einerseits mehr Platz pro Huhn, andererseits eine Art Möblierung mit Einstreubereich, Nest und Sitzstangen. Solche Käfige haben obendrein den wirtschaftlichen Vorteil, in die bestehenden Ställe und die Abläufe der industriellen Eierproduktion zu passen. Aber Forscher kritisieren auch diese von Brüssel abgesegneten Lege-Appartements als zu eng. »Ausgestaltete Käfige nach den Mindestanforderungen der EU konnten nicht alle Parameter für Tiergerechtheit erfüllen«, sagt Lars Schrader und ergänzt, »es ist aber nicht ausgeschlossen, dass zukünftige Modelle es können.« Aber warum lässt man die Hühner denn nicht gleich ganz frei herumlaufen?
Heidi legt ihr Ei meist morgens. Im mit Plastikvorhängen abgedunkelten »Nest« an der Stallrückseite findet sie Dunkelheit und Ruhe für die halbstündige, kräftezehrende Prozedur. Es schützt die Henne auch vor den eigenen Artgenossinnen. Unmittelbar nach dem Legen ist die Kloake noch rot glänzend ausgestülpt und zieht damit unheilvoll die Aufmerksamkeit der anderen Hühner an. »Kloakenkannibalismus«, ebenso wie das Federpicken eine arttypische Umlenkung des Nahrungssuchverhaltens, fordert regelmäßig Todesopfer.
Dieses Verhalten gelte derzeit als das gravierendste Problem von Freiland- und Bodenhaltung, sagt Ute Knierim, Nutztierethologin von der Universität Kassel. »Die picken sich gegenseitig die Därme aus der Kloake«, fomuliert es deftig Bernd Diekmann, Vorsitzender des Bundesverbandes Deutsches Ei. Zwar tritt der Killerinstinkt auch im Käfig auf; mit zunehmender Gruppengröße und Bewegungsfreiheit findet ein aggressives Tier aber viel mehr Opfer - das spricht für Kleingruppenhaltung. Zucht hilft nur bedingt. »Man kann dieses Verhalten zwar tatsächlich minimieren, aber es ist eine große Herausforderung«, sagt Rudolf Preisinger, Chefzüchter bei Lohmann in Cuxhaven, einem der wenigen weltweiten Anbieter von Zuchtlinien. »Wir züchten bereits seit Jahren Tiere speziell für die Alternativhaltung.« Maximale Friedfertigkeit als Zuchtziel aber - das haben Versuche gezeigt - hat ihren Preis: »Die Hennen legen weniger Eier.«
Damit nicht genug - Untersuchungen belegen weitere Mängel der großen Hühnerbefreiung: Obwohl das Kupieren, also das Kappen der Schnabelspitze, längst verboten ist und einer behördlichen Ausnahmegenehmigung bedarf, ist der Schnitt in den Schnabel bei frei laufenden Tieren immer noch weit verbreitete Praxis - als notwendige Zwangsmaßnahme gegen Pickereien zwischen Artgenossen.
Außerdem sind die Tiere, anders als im Käfig, nicht von ihrem Kot getrennt. Der dickflüssige Dünger verirrt sich ins Futter und zu den Eiern. Studien belegen eine deutlich höhere bakteriologische Belastung von Alternativeiern. Obendrein neigen Hennen dazu, sich in der Nähe der Tür zu drängeln. Das heißt, dass sie selbst üppigen Freilandauslauf oft nicht nutzen. Zudem sind Fälle belegt, in denen die Tiere in Panik - etwa durch lauten Gewitterdonner erschreckt - auf einen Haufen liefen und sich gegenseitig totdrückten. Ebenso kommen Arznei und Impfungen bislang in den offenen Systemen weit häufiger zum Einsatz. - »Es besteht sicher noch Entwicklungsbedarf. Auch der Managementaufwand ist deutlich größer bei alternativen Haltungssystemen«, räumt Ute Knierim ein, bei weitem keine Sympathisantin der Industrielobby.
Wenn es den Tieren draußen nicht besser geht als drinnen - warum dann überhaupt die Umstellung? Für Betriebe mit hohen fünf- und sechsstelligen Tierzahlen gilt ein Umstieg schließlich als gänzlich unpraktikabel. Während die wenigen Multis angesichts des nahenden Käfigverbots mit Abwanderung drohen, seien viele weniger große Betriebe zur »Aufgabe der seit Generationen mit Geflügelhaltung befassten Familienbetriebe gezwungen«, klagt Bernd Diekmann. Tatsächlich prognostiziert eine Studie der Bundesländer Bayern, Sachsen und Thüringen: Fällt ab 2007 die Käfighaltung weg, sinkt die Selbstversorgungsquote mit deutschen Eiern auf rund 30Prozent - von derzeit knapp 65 Prozent. Laut Statistischem Bundesamt verfügt in Deutschland ein Prozent der Betriebe über 90 Prozent der mehr als 40 Millionen Hennen, Konzentrationstendenz steigend. Zwar lockt das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (BMVEL) mit Geld für die Umstellung. Dass lediglich die Umrüstung von einer halben Million Legeplätzen bislang bewilligt oder beantragt ist, zeigt aber: Offene Haltung ist prima im kleinen Maßstab familiärer Höfe, wo die Gruppen überschaubar sind und die Betreuung überdurchschnittlich gut ist. Für die Masse der Legehennen ist sie jedoch keine Lösung. Hat sich die Politik voreilig auf Ausstieg festgelegt? Die Tierschutzlobby indes warnt die Ministerin davor einzuknicken. »Ein einziger Etikettenschwindel, Käfig bleibt Käfig«, sagt Brigitte Rusche, die Vizepräsidentin des Deutschen Tierschutzbundes, für die geschlossene Systeme indiskutabel sind. »Das wäre ein Riesenrückschritt, das erzürnt die ganze Tierschutz-Szene.« Jeder Kompromiss würde als Handel auf Kosten der Tiere interpretiert.
Heidi frisst aus einem Trog, der quer über den Boden des Stalls läuft. Er ist groß genug, dass sie mit ihren WG-Genossinnen gemeinsam speisen kann und nicht darauf warten muss, bis ihr Platz in der Hackordnung ihr das Körnerpicken gestattete. Ein Weilchen später baumt sie sich sichtlich zufrieden auf. So nennen die Fachleute es, wenn ein Huhn auf der Stange sitzt. Hennen schlafen derart von Natur aus am liebsten. Heidi drückt ihren Kopf auf die weiß gefiederte Brust und balanciert im Schlaf ihre Ruhehaltung aus. Als Forscher Schrader kurz vor Feierabend noch einen Blick in seinen Teststall wirft, sitzen 29 von 30 Hennen auf den Stangen der oberen Ebene, nur eine ruht im Erdgeschoss. Ausgestaltete Käfige nach EU-Vorgabe disqualifizieren sich genau hier: Sie haben nur eine Ebene. Müssen die Tiere dort auch schlafen, werden sie ständig vom Gewusel wacher Artgenossinnen gestört. Ausgerechnet das zweite Schlafstockwerk macht die Celler Kleinvolière aber für die Eierindustrie inakzeptabel: Die durchschnittliche Höhe eines Stallgebäudes beträgt nur 2,70 Meter. Nicht einmal drei von Schraders Prototypen ließen sich dort übereinander stapeln. Im Sommer präsentierte die Geflügellobby einen Gegenentwurf, der verwirrenderweise ebenfalls Kleinvolière genannt wird: ein plattes Pendant, etwas geräumiger als die EU es fordert, aber nur 45 Zentimeter hoch. Ist diese Höhe ein Ausschlusskriterium, das jeden Kompromiss unmöglich macht?
Heidi flattert, wenn sie vom Einstreubereich auf der unteren Ebene zu den Sitzstangen gelangen will. Die Kante in rund einem halben Meter Höhe ist nur mit einem flügelschlagenden Hopser für die Hennen erreichbar. Hennen sind keine großen Flieger, doch Geflatter am Boden, so viel ist sicher, ist ein essenziell natürliches Verhalten. Keine zwei Minuten von Heidis Heim entfernt, soll ein Begleitexperiment der FAL Aufschluss geben, wie die Hennen es mit Höhe halten, wenn sie die Wahl zwischen unterschiedlich hohen und niedrigen Sitzgelegenheiten haben. »Wir werden hier herausfinden, ob es den Tieren nur ums Aufbaumen auf eine Sitzstange geht - oder ob die Höhe selbst von Bedeutung ist«, erklärt Lars Schrader.
Alles hängt nun an der Frage der Höhe. Sie solle in der Verordnung überhaupt nicht festgeschrieben werden, fordert der Bundesrat. Bislang ist ein Minimum von zwei Metern Vorschrift. Ministerin Künast stellte bei der letzten Agrarministerkonferenz Anfang Oktober in Warberg das Celler Modell als Ausweg vor - die Kleinvolière als zusätzliche erlaubte Haltungsform. Ein Kompromissvorschlag mit Kalkül, die Reaktion vorhersehbar: Weder Tierschützer noch Industrievertreter wollen ihn akzeptieren. Die Landesminister lehnten ab, es gab keine Einigung. »Ich erwarte nicht, dass dieses erste experimentelle Modell einer Kleinvolière genau so in Serie gehen wird«, sagt Schrader über seinen Prototypen, der der Politik nicht so recht in den Kram passt und von Tierschützern wie Industrielobby geschmäht wird. »Ich fühle mich im Moment, als säße ich zwischen allen Stühlen«, sagt der Forscher, »aber als Wissenschaftler kann ich ganz gut damit leben.«
Wie ein Kompromiss zwischen artgerechter Haltung, Gesundheit und Wirtschaftlichkeit aussehen könnte, will das Nachbarland Österreich ab 2009 zeigen. Dort ist keine Haltungsform verboten, jede einzelne soll sich aber einer Art Tierschutz-TÜV unterziehen - beileibe kein Glücklicher-Hühner-Test, aber ein Abklopfen des wissenschaftlich Notwendigen. Henne Heidi wird Aufschluss darüber geben, was genau das ist.
(c) DIE ZEIT 21.10.2004 Nr.44
http://www.zeit.de/2004/44/N-Legehennen