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Was sollen die Inuit tun? - In den Supermarkt gehen

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Was sollen die Inuit tun? - In den Supermarkt gehen

Autor: martin | Datum:
Man hört es seltener, aber ganz entblödet sich noch nicht jeder die Behauptung aufzustellen, die Inuit könnten nicht vegan leben (was implizieren soll, daß man es dann selbst auch nicht bräuchte). Das wird durch Zeitschriftenartikel Lügen gestraft, in denen berichtet wird, wie man selbst in nördlichsten Stadt in Grönland im Supermarkt Kaffee und "Fertigpizza" kaufen kann. Auch wenn die "Gemüseabteilung" dort noch dürftig ausgestattet ist steht fest, daß sie nicht wollen und nicht, daß sie nicht könnten.

Was sie viel lieber machen, ist eine (nicht nur ethisch völlig inakzeptable), sondern selbst wirtschaftlich zu 100% subventionierte "Jagd" betreiben. Der Umgang mit den angeblich "geliebten Schlittenhunden" ist auch bezeichnend: sie werden hungern gelassen, regelmäßig ausgepeitscht, wenn sie krank sind auf die Müllhalde geworfen und ab und an ist auch mal eine Massenexekution fällig. In Bezug auf Tierschutz hat der Interviewte außerdem die Nadel im Misthaufen gewonnen.
Die "Bewahrung der Jagd" wird kulturell begründet - ob diese Form von "Kultur" erhaltenswert ist, sollte man noch einmal überdenken.

Herr Andersens Gespür für Grönland

Autor: martin | Datum:
Grönland ist auf dem Weg zur politischen Unabhängigkeit. Am Jahresende stimmen 
das dänische Parlament und das grönländische Volk über eine erweiterte Autonomie ab. 
Doch kann die Insel wirtschaftlich ohne Dänemark bestehen? 
Ein Kapitalismuscoach aus Kopenhagen will die Inuit umschulen. Reiche Touristen sollen die Jagd nach Robben oder Eisbären übernehmen.

Der Mann, der ihr Leben ändern will, hält ein paar Atemzüge inne. Vorne am Videobeamer steht er, Steen Andersen. Er ist aus Kopenhagen hierhergekommen, nach Qaanaaq, in die nördlichste Stadt von Grönland. Er steht im Gemeindezentrum, in einem Klassenraum mit Tafel und Putzschwamm. Vor ihm sitzen die Jäger Qaanaaqs. Er weiß, dass ihre Lage kalt und aussichtslos ist, er weiß, dass bald nichts mehr ist, wie sie es kennen, dass der Kapitalismus hier Einzug hält, der Turbokapitalismus, Anarchokapitalismus, Harakirikapitalismus. Er weiß, dass sie sich ändern müssen, wie sie sich ändern müssen. Aber er weiß nicht, wo er anfangen soll. Er schweigt, starrt in die Wand. Es ist still, fast beängstigend still. Nur der Videobeamer schnauft leise.

„Die Stadt, die in Alkohol schwimmt“, haben die Zeitungen in Dänemark geschrieben. Die Stadt, in der die Kinder krank durch die Straßen irren, weil die Eltern nicht mehr wissen, was sie tun. Steen Andersen schweigt, starrt in die Wand. Draußen hört er den Schnee, der an den Fenstern streicht. Er reibt sich die Hände warm, er trägt einen schwarzen Rollkragenpullover, beige Cordhosen und überlegt. Mit einem Satz will er sie wieder heimholen, die Einwohner von Qaanaaq, mit einem Satz will er sie wieder zu Norddänen machen, nachdem die Zeitungen sie als Trinker, Inzestgeile, Kinderquäler ausgebürgert haben, an den gefühlten Rand der Welt.

Der grönländische Jäger: eine bedrohte Spezies

Damit sie ihm zuhören. Steen Andersen soll ein Projekt vorstellen. Die Grönländer haben die Dänen beauftragt herauszufinden, wie viele Eisbären es noch gibt. Steen Andersen will die Jäger überzeugen, dass sie Proben von Eisbärenfleisch abliefern. An den Proben wollen die Dänen den Bestand analysieren und eine – möglicherweise neue – Abschussquote festsetzen. Die Grönländer wollen sich evaluieren lassen, um zu zeigen, dass sie die Rechte der Tiere achten, dass sie alle Regeln einhalten, die ein richtiger demokratischer Staat einhält, dazu gehören die Menschenrechte, aber auch die Tierrechte. Sie wollen zeigen, dass sie bereit sind für die Unabhängigkeit. Und Dänemark schickt Biologen. Experten allerdings, die sich nicht nur um den Eisbären, sondern auch um eine andere gefährdete Spezies sorgen: den grönländischen Jäger und sein Überleben in der freien kapitalistischen Wildbahn. Seine Existenz ist bedroht, wenn die Unabhängigkeit kommt. Steen Andersen ist eigentlich ein Kapitalismuscoach.

Jährlich überweist Kopenhagen 7000 Euro an Grönlands Selbstverwaltung für jeden ihrer 56 000 Einwohner, ermöglicht so die kollektive Wohlfahrt auf der Eisinsel. Doch was, wenn die Subventionen fallen? Wovon soll Qaanaaq leben? 3000 hauptberufliche Jäger gibt es in Grönland, 50 davon wohnen in Qaanaaq. Die Autonomiebehörde unterhält sie wie Staatsbeamte, kauft ihre Felle, was sonst niemand mehr tut, seit Seehundpelz in Verruf geraten ist, und leistet sich ihretwegen eine teure Infrastruktur in Qaanaaq. Krankenhaus, Polizei, Bank, Schule, Kindergarten, Verwaltung, Supermarkt, Flugplatz. Alles nur wegen der Jäger.

Doch die Jäger kosten nicht nur. Mit ihren Hundeschlitten, ihren Eisbärenhosen und ihrer altertümlichen Sprache geben die Jäger das, was man in Grönland nationale Identität nennt. Heimat, Zusammengehörigkeit, Volkskern. Sie geben der Autonomieregierung den guten Grund, nach Unabhängigkeit zu rufen. Einerseits. Andererseits liefern sie ihr das noch bessere Argument, unter dänischer Obhut zu bleiben. Dänemark ist Mäzen der Jäger. Bewahrer der nationalen Identität. Kann Grönland grönländisch sein ohne dänisches Geld?

Grönland ist grönländisch, wenn es sich lossagt, hält die Autonomieregierung dagegen. Zumindest handelt sie so, spart schon an den Enden des Landes, rationalisiert die Wohlfahrt für die alimentierten Randgebiete, zentralisiert, um den Haushalt schlank zu machen für eine Zukunft ohne Tropf. Schon steigen die Preise in Qaanaaq, noch vor Kurzem kostete ein Pfund Kaffee in Qaanaaq so viel wie in Südgrönland, das Plus an Transportkosten wurde nicht dem Kaffee, sondern dem grönländischen Haushalt aufgeschlagen. Schon wandern die ersten Verwaltungen aus Qaanaaq ab, fusionieren mit anderen im Süden, die Jobs werden weniger. Gibt Grönland Qaanaaq auf? Kann Steen Andersen helfen?

Das afrikanische Modell

Die bestehende Quote für Eisbären, denkt er, ist zu niedrig. Wenn klar sei, dass die Quote den Bestand der Tiere nicht gefährdet, dann „haben die Tierschützer, die Greenpeace-Leute, die Brigitte Bardots dieser Welt keine Argumente mehr. Dann können wir was Großes hier aufziehen“.

Wenn er an die Zukunft von Grönland denkt, denkt er an Afrika. An Afrika, wie er es in seinen Filmen zeigt. Steen Andersen macht das Projekt in Qaanaaq nur nebenher, eigentlich könnte man ihn den berühmtesten Jäger Dänemarks nennen. Er hat seine eigene Jagdshow im dänischen Fernsehen, „Jagdmagazin“, montags 22.15 Uhr auf DK 4, 25 Minuten Livereportage. „Jagd ist etwas Ernstes“, moderiert er an und schiebt Patronen in sein Gewehr, „man setzt sein Leben aufs Spiel. Wir sind hier in Sim-babwe, heute geht es um den legendären Afrikanischen Büffel, mit dem wir unsere Kräfte messen wollen. Herzlich willkommen!“ Dann sieht man Steen und seine vier afrikanischen Treiber in Tarnkleidung durch die Savanne schleichen. Ein Helfer stellt ein Stativ hin, ein anderer schiebt die Zweige beiseite, Steen legt sein Gewehr ab, blickt durchs Zielfernrohr, die Kamera zoomt auf Steen, Schuss. Er schnauft, Blut rinnt ihm übers Gesicht, der Rückstoß hat das Zielfernrohr gegen die Augenbraue geschlagen. Von hinten schiebt sich eine Hand ins Bild, tupft. Steen wehrt ab, „geht schon, geht schon“, an die Kamera gewandt: „Büffeljagd ist eine wunderbare Sache. Sie macht Jungen zu Männern und Männer zu kleinen Trotteln, wie man sehen kann.“

Wenn er an die Zukunft von Grönland denkt, denkt er an das „afrikanische Modell“. „Du gehst hier als Tourist für eine Woche oder zwei auf Safari, zahlst 1000 Euro am Tag, obendrauf die Trophäengebühr von 15 000 Euro. Und bekommst dafür ein wunderbares Erlebnis, bist in Eisbärenhosen für ein paar Tage, bist ein echter Jäger, isst Moschusfleisch. Und hast eine tolle Geschichte zu Hause zu erzählen.“ Und dafür bekommen die Jäger in Qaanaaq – statt 1600 Euro von der Kommune für ein Fell – 30 000 Euro vom Touristen für ihren Dienst als Vollzugsassistenten, dafür, dass sie Stative hinstellen, Augenbrauen tupfen und zum Schuss gratulieren.

Wenn er an die Zukunft von Grönland denkt, denkt er an Geld. Geld, das unabhängig macht. Und dann sagt er ihn, den ersten Satz: „Ich bin Jäger. Genau wie ihr.“

Nüchterne Steinwüste

Qaanaaq, ein paar Tage zuvor. Steen Andersen ist schon in der Stadt. Er macht Anschläge im Supermarkt, um seinen Vortrag anzukündigen, er spricht mit dem Bürgermeister und mit dem Vorsitzenden des Jagdverbands, und er will ein Gefühl bekommen für Qaanaaq im Februar. Noch gibt es keine Tage, noch gibt es nur Dämmerung, der wieder Dunkelheit folgt. Die Sonne kommt mittags hervor, schafft es nicht den Himmel hoch, sondern kriecht über den Horizont, wo sie sich hinter den Bergen ermattet fallen lässt, um vier Uhr ist ihr Tagwerk getan. Dann heulen die Hunde, erst einer, dann zwei, dann alle 1000 im ganzen Dorf. Heulen in der Steinwüste, die Qaanaaq umgibt, heulen unter einem Himmel, der Lavendel ist.

Ein schwacher Lichtbogen bleibt am Horizont, dann sinkt die Nacht, leer und endlos, bis der Vollmond steigt und dem Himmel eine Bläue gibt, in die man tief zu blicken meint, zu den Sternen und noch darüber hinaus. Wo sind die Schrecken des Eises und der Finsternis? So viele Farben, so wenig Dunkel. Man hätte der Natur mehr Demut zugetraut, hier im Norden. Nur der Schnee verkrümelt sich bei minus 30 Grad und liegt als Reif auf der Ebene. Nüchtern auch der Ausdruck der Landschaft, die der Gletscher auf seinem Weg ins Meer geschliffen hat. Es ist so kalt, dass hier keiner an die Luft gesetzt werden kann, wenn er die Miete nicht zahlt. So kalt, dass Schuldner ihr Haus irgendwann von der Stadt geschenkt bekommen.

Dicht gedrängt, am Hang, die bunten Fertighäuser aus Dänemark. Hier leben 850 Menschen. Telefon nach draußen gibt es erst seit 20 Jahren, die nächste Stadt ist 700 Kilometer entfernt. Davor der Eisfjord. Die Berge. Die Weite. Eine beängstigende Weite. Die Natur ist reduziert auf Himmel, Stein und Eis. Aber maßlos in ihren Dimensionen. Eine Stille, die man nur aushalten kann, wenn man sie sucht. Eine Einsamkeit, die einem nur bekommt, wenn sie Befreiung ist. Eis ist Kälte, Leben ist Wärme. Aber wo man zusammenrückt, damit das Eis nicht siegt, wird das Leben schnell eng.

Es gibt in Grönland keine Gefängnisse. Es gibt nur sogenannte Verwahrungsanstalten. Dort bleiben die Mörder für ein paar Monate, bevor sie wieder auf freien Fuß kommen. Das liberale Strafrecht spiegelt die extremen Lebensbedingungen in Grönland. Und die lehren, dass Enge der beste Bewährungshelfer ist. Man muss miteinander auskommen auf den bewohnbaren Flecken, die Bedingungen erfordern Zusammenhalt.
Die Einwohner von Qaanaaq sind schon im Gefängnis. Es gibt nur eine Straße, einen Supermarkt, eine Kneipe. Die Menschen überwachen einander, nichts in Qaanaaq kann der Öffentlichkeit entfliehen.

W as sie einsperrt, ist die Ungewissheit jenseits. Draußen, vor der Stadt, da herrscht das Dunkle, das Unbekannte: das Wetter. Ob die Eisbären kommen, ob die Dash 7 aus Ubernavik einfliegt, ob die Jäger morgen ausziehen – immaqa. Immaqa heißt „vielleicht“. Der Himmel, der manchmal so hoch und unerfasslich ist, senkt sich plötzlich herab, Schneeschleier stäuben von den Hängen, dann schließt sich heulendes Weiß um die Häuser, immer dichter. Diese Nacht wird das Licht nie mehr freigeben, fürchtet man. Wenn der Schnee vor den Fenstern rast, bleiben die Menschen in Qaanaaq, wo sie gerade sind, beim Aero-bic in der Gemeindehalle, im Supermarkt oder beim Nachbarn, vielleicht ein paar Stunden, vielleicht die Nacht. Die Gelassenheit von Gefangenen macht sich breit, man spielt Karten oder brütet in Winterstarre vor sich hin.

Und nun weht draußen vor den Häusern ein neuer Wind, ein Wind, der Zukunft heißt. Schmeißt der Staat sie in die kalte Welt der Globalisierung?

Wind von Norden. Deshalb konnte Gedion Kristiansen gestern nicht jagen. Er lebt mit seiner Frau Martha und seinem Sohn Rasmus in einem grünen Haus am Ortsrand. Drinnen riecht es nach frisch ausgenommenem Tier. Ein verchromter Eisschrank steht im Eingang, daneben zwei Harpunen; Parkett, gepflegte Einbauküche, Doppelglasfenster, Fernseher und DVD-Rekorder. Martha und Gedion sitzen auf einem grünen Sofa mit Blumenmuster. Beide haben fein geschnittene Gesichter, schmale Nasen, dunkle Haare, er zu Koteletten verlängert, sie zur Tolle aufgewellt. Er trägt Jeans und Strickpulli, auch seine Frau ist praktisch angezogen.


Ewiges Eis oder Fertigpizza

Für Gedion gibt es das Leben in der Stadt und das Leben auf dem Eis. Wenn er in Qaanaaq ist, kocht er Seehundfleisch, schiebt eine Fertigpizza in den Ofen, guckt Forensikfilme, spielt mit seinem Sohn an der Playstation oder wartet auf den „Schokoladenmann“, der einmal die Woche die Fäkalienbeutel aus den Chemietoiletten holt. Oder er schickt den Schaufelbagger los, der Gletscherbrocken vor die Haustür liefert, bestes Wasser für seinen Kaffee. Oder er geht einkaufen in den Supermarkt. Die Gemüseabteilung besteht aus einer Eimerladung vertrockneter Zitronen. Dafür ist die Auswahl an Süßigkeiten überbordend: Ritter Sport in allen Sorten, alles von Dr. Oetker. Aber keine Bücher – niemand wollte sie kaufen. Deshalb gab es einen großen Schlussverkauf. Jetzt liegen nur noch Kreuzworträtselmagazine und acht „Playboy“-Hefte aus.

Dann wieder schlüpft er in seine Eisbärenhosen, streift den Robbenfellanorak über und verschwindet für Tage, für Wochen in sein zweites Leben, wechselt hinüber auf die andere Seite. Seine Frau begleitet ihn ab und an, in den Sommerferien, aber nicht im Winter. An den Wänden hängen Urlaubsbilder, Rasmus balanciert auf einer gefrorenen Robbe, Martha trinkt Kaffee auf dem Hundeschlitten. Fühlt sie sich alleine, wenn er weg ist? Ist das Leben anders? Die Frage müsste andersherum lauten, sagt sie. Es ändert nicht viel, wenn er da ist. Sie steht morgens auf, der Sohn geht zur Schule, dann frühstückt sie und macht den Haushalt. Ja, sie habe gehört, da sei jemand in der Stadt, der ihr Leben ändern will.

Der erste Däne, der Anfang des 20. Jahrhunderts in den Norden Grönlands kam, war der Entdeckungsreisende Knud Rasmussen, und er sagte, „nie habe ich mich als Polarforscher so klein gefühlt wie diesen Frauen gegenüber, die mit dem Säugling an der Brust Reisen unternahmen, die manch einen weißen Mann das Leben gekostet hätten … Wir sollten ihnen die Zivilisation so lange wie möglich vom Hals halten“. Die Grönländer sollten ein Naturvolk bleiben, wunderbar fremd, so träumte er. Und tatsächlich, bis zum Zweiten Weltkrieg hielten die Dänen allen Fortschritt von der Eisinsel fern. Dann kam die Kolonialidee weltweit aus der Mode. Die Dänen sprachen fortan von ihrem „Bezirk“. Jetzt wollten sie Grönland öffnen. „Danisieren“. Man sammelte die Grönländer aus verstreut liegenden Jägergemeinschaften und siedelte sie in Städten an mit Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern. Führte sie aus Hunger und Not, aber auch aus der jahrhundertealten Selbstversorgung in die Abhängigkeit vom dänischen Wohlfahrtsstaat. Jetzt kommen Dänen wie Steen Andersen und wollen den Grönländern zeigen, wie das fremde schöne Leben auch ohne sie geht.

Und während Steen dem Vorsitzenden des Jagdverbands erzählt, wenn hier Jagdtourismus eingeführt würde, müsse er nur ein paar Freunde anrufen, und am Mittwoch seien sie hier und legten 30 000 Euro bar auf den Tisch, hellt sich der Himmel über Qaanaaq, färbt sich von Schwarz in Blau, nach und nach lösen sich die ersten Eisberge aus der Dunkelheit, und Gedion macht sich zur Abfahrt bereit. Die Hunde jaulen vor der Haustür, Martha geht mit der Schaufel dazwischen. Gedion zurrt Gewehr und Schlafsack am Schlitten fest, seine Frau steckt ihm eine Schachtel Marlboro zu, „thank you“, sagt er und lächelt.

Und nun flitzt er los, die Stadt wird nur langsam kleiner, die bunten Häuser am Hang scheinen noch lange nah, in der klaren Luft wirkt alles näher. Festgefrorene Eisberge tauchen auf, erst ein Schimmer am Horizont, der wächst, vorübergleitet und schließlich verschwindet. Die Hunde hetzen, die Eisberge fluoreszieren. Gedion sitzt auf dem Schlitten, die Beine längsseits übereinandergeschlagen. Ab und an springt er ab und läuft sich warm.

Eine Scherbenwelt liegt vor ihm, das erstarrte Meer. Wenn es kälter wird, schließt sich das Eis nicht zu einer Scheibe. Die Strömung hält es noch lange in Bewegung. Wälle und Mauern, Kuppen und Grate – das Meer formt sich himmelwärts. Unter den andrängenden Schollen pressen sich Klippen und Kämme ständig neu zusammen und stürzen auch wieder ein.

"Du hast nur diesen einen Moment"

Der Schlitten holpert über eine Trümmerwüste. Vor den Verwerfungen beschleunigen die Hunde. Nicht aus Rache an dem Hundehalter, sondern aus Selbstschutz. Die Hunde ziehen ihre Leinen straff, damit sie nirgendwo hängenbleiben und unter die Kufen geraten. 19 Hunde hat Gedion, 19, mit den Welpen gerechnet. Sieben Hunde haben einen Namen: Kulloq – „der Gute“, Ajaajaugquaq – „der Wertvolle“, Qernerriaq – „der Schwarze“. Es gibt keine feste Marschordnung, die Hunde hecheln in ständigem Positionswechsel. Nur „der Schwarze“ ist immer vorne. Manchmal lässt er sich zurückfallen, um zu pinkeln, zu beißen oder zu decken, drei, vier Meter bleiben ihm, bis das Geschirr ihn wieder mitreißt.

Gedion fährt stundenlang, schweigt und schaut, die Wimpern von Reif verkrustet, der Bart frostweiß. Wo andere nur Schnee sehen, sieht Gedion feine Kuppen, Eisbärenspuren. Früher gab es in Ostgrönland die Regel, wer zuerst den Eisbären sieht, bekommt sein Fell. Bis die Bewohnerin eines Altenheims, die Stunden mit dem Fernglas am Fenster zubrachte, den Jägern alles wegguckte. Wo andere nur Eis sehen, sieht Gedion Löcher, Atemlöcher, als solche kaum zu erkennen. Er springt ab, schickt den Hundeschlitten weg, die Hunde warten in einiger Entfernung. Dann neigt er sich über das Loch, versunken, manchmal eine Viertelstunde, manchmal länger. Er steht mit abgewinkeltem Oberkörper dort, die Flinte im Anschlag, absolute Stille.

„Du hast nur diesen einen Moment“, sagt Steen. „Du musst ganz dieser Moment werden.“ Die Robbe kommt, Schuss! und schwupp an den Enterhaken. Die Hunde, eben noch in Spannung, stürzen los. Blut tropft auf den Schnee, die Hunde lecken, bis die Flecken verblassen.

Steen Andersen sagt, viele seiner Freunde hätten mitgemacht bei dem Film „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“. In einer Szene beugt sich ein Inuit über ein Eisloch, die Grönländer im Filmteam haben gesagt, was für ein Quatsch, das würde kein Grönländer machen, dann sieht dich ja die Robbe. Aber Bille August hat darauf bestanden. Für ihn war das cineastisch stärker. Erst recht waren sie irritiert, als Smilla in den Schnee gegangen ist, ohne ihre Mütze mitzunehmen, das würde kein Grönländer machen.

Säufer oder edle Wilde

Sie haben auch nicht hundert Wörter für Schnee, sondern nur vier.
Das Gespür der Dänen für die Grönländer ist begriffsreicher. Man nennt sie Säufer und Sozialhilfeempfänger. Experten im Feiern und antriebslose Schmarotzer. Man nennt sie Opfer der Kolonialisierung, und spätestens seit „Smilla“ nennt man sie wieder die edlen Wilden im arktischen Tahiti. Das Naturvolk, das den Weg findet, auch wenn der Schnee zu einer weißen Wand verdichtet ist. Ist es die Flugrichtung der Eiskristalle? Oder der Geruch der Flocken? Die Dänen rätseln und staunen. Die Charmeoffensive hat einen Hintergrund. Die Dänen wünschen sich einen sauberen Abgang aus Grönland – eine Trennung im Guten. Sie wollen nicht böser Kolonialherr sein. Sie wollen nicht herabschauen. Sie wollen bewundern.

Man spricht heute von gegenseitiger Befruchtung. „Wir können von ihnen lernen“, meint Steen Andersen, „umgekehrt können die Grönländer auch von uns lernen.“ Denn den Weg in die Unabhängigkeit, den kann man nicht riechen. Den muss man berechnen, kalkulieren, den muss man sich verdienen, will er damit sagen. Vielleicht wird er bei seinem Auftritt in der Gemeindehalle an Gedions Urgroßvater erinnern, Miteq Kristiansen, der Knud Rasmussen einmal in den Norden geführt hat, und ihn den ersten Dienstleister der Region nennen. Vielleicht wird er es Rückbesinnung nennen, um der Zukunft den Schrecken zu nehmen, wenn Gedion bald Walrösser vor die Flinten der Touristen schubst. Wie auch immer – die Einwohner von Qaanaaq müssten ihr Bleiberecht künftig erwirtschaften. Sie müssten nachgefragt werden.

Und während Steen an seinem Vortrag arbeitet, fährt Gedion draußen auf dem Eis, schweigt und schaut. Die Kälte bahnt sich durch vier Lagen Thermounterwäsche, Eisbärenhose und Rentieranorak. Zwei, drei Stunden spürt man nichts, dann zieht sie in die Knochen, die Gelenke werden steif, jede Bewegung fällt schwer. Der Wind schneidet ins Gesicht, Eishauch presst sich in die Lungen. Nur mit abgewandtem Gesicht lässt es sich atmen. Die Nase wird weiß, wie mit Kalk bestrichen. Wer sie jetzt nicht knetet, lernt sie in allen Farben kennen, erst Weiß, dann Blau, dann Schwarz, dann ab.

Da in der Ferne, eine Hütte! Sie ist warm und trocken, und es gibt Essen. Das Eis knackt im Topf, der Gaskocher zischt. Gedion isst Robbenfleisch aus der Plastiktüte. Robbenfleisch wärmt.

Ab und zu rennt er hinaus, weil sich die Hunde in der Wolle haben, peitscht die Rüden brüllend auseinander, drischt wie irr auf sie ein. Die Hunde, sagt Gedion, sind eigentlich keine – es sind Wölfe. Zwei Regeln seien wichtig: Nicht weich werden, bei keinem! Wer die Herrschaft über einen verliert, hat alle gegen sich. Nie hinfallen! Wer steht, hat nichts zu befürchten, aber wer am Boden liegt, über den fallen sie her. Vor allem im Sommer, wenn die Erde auftaut und schichtweise ihr Inneres freigibt und ganz Qaanaaq mit dem Hausbau und nicht mit der Jagd beschäftigt ist und die Hunde, arbeitslos, nur einmal die Woche einen Hering bekommen, reißen sie an ihren Ketten, ziehen die Lefzen, bissig vor Hunger. Zwar herrscht Kettenzwang in Qaanaaq, doch die Spielplätze sind vorsichtshalber eingezäunt. Wenn etwas passiert – und es passiert, jede Familie in Qaanaaq kann Geschichten erzählen –, wenn etwas passiert, müssen alle Hunde sterben, die das Unglück gesehen haben, egal ob zehn oder 50, damit die Tat in keinem Kopf weiterlebt und sich wiederholen kann.

Die Hunde sind Gebrauchsgegenstände. Solange sie Schlitten ziehen, Eisbären jagen, solange sie von Nutzen sind, dürfen sie sein. Wenn sie alt oder verletzt sind, werden sie erschossen und verfüttert, wenn sie krank und nicht verwertbar sind, landen sie mit Kühlschränken und ausgebrannten Fernsehern auf der Müllhalde vor der Stadt.

Schnee legt sich über Gedions Hunde. Sternförmig sind sie um die Hütte verteilt, nicht mal im Sturm rücken sie enger zusammen. Drinnen heizt es sich schnell auf plus 30 Grad auf. Unter der Decke, an Schnüren befestigt, trocknen die Sachen. Nur die Eisbärenhosen liegen auf dem Boden, dort, wo es am kühlsten ist – denn kühl muss es sein, damit nicht das Bärenfett aus dem Fell tropft. Nur fettig isolieren die Hosen.

"Wir Jäger wollen den Wandschmuck"

Gedion liegt ausgestreckt auf der Holzpritsche und schaut auf die Eisblumen am Fenster. Er macht seine eigenen Schnarchgeräusche nach und lacht. Auf dem Eis hat er nur gelacht, wenn er danebengeschossen hat. Hier in der Hütte muss er viel lachen. Aufhören, Jäger zu sein, um mehr Geld zu verdienen? Ja, er habe gehört, da sei jemand mit neuen Ideen in der Stadt.

Wenn er hier wäre, er wüsste ihm was zu sagen. Sein Vater habe gejagt, sein Urgroßvater, alle Männer in der Familie. Er wird immer jagen. Aber Steen ist in der Stadt und Gedion auf dem Eis, und sie können sich nicht hören. Doch was sie reden, der eine hier, der andere dort, es klingt nach Gegenrede, als seien die Worte des anderen gegenwärtig.
Steen sagt, unser Leben bestehe aus Veränderungen. Das sei auch das Tolle an der Jagd – wir werden aus dem Alltag herausgenommen und erleben etwas ganz Neues. Ein neues Land. Eine neue Herausforderung.

Gedion sagt, er wolle nirgendwohin. Dänemark sei schön, aus der Ferne betrachtet, im Fernsehen. Aber hinfahren, das kann er nicht, und weil er es nicht kann, möchte er es auch nicht. Man träumt nicht in Grönland. Außerdem kennt er die Tiere dort nicht. Nicht den Schnee, nicht die Berge, nicht den Wind. Er kann dort nicht jagen.

Steen sagt, wir Jäger wollen den Wandschmuck, den Bettvorleger, das Souvenir. Wenn du lange Hörner hast, wenn du alt bist, wenn du große Zähne hast, dann hast du als Tier irgendwann ein Problem.

Gedion sagt, es gehe bei der Jagd nicht um das größere Tier oder das mächtigere Horn. Nie würde ein Jäger prahlen. Man rede in Grönland nicht über die eigene Leistung, vor allem nicht, wenn man herausragt. Man solle gutes Mittelmaß sein, nicht zu weit über den anderen, nicht zu weit unter ihnen. Sonst geschieht es einem wie der Grönländerin Julie Berthelsen. Sie war Zweite beim Wettbewerb „Dänemark sucht den Superstar“. Und danach war sie in Grönland unten durch.

Steen sagt, das Leben müsse ein Ziel haben. Dann hat es Sinn.
Gedion sagt, das Leben sei gut, wie es ist. Ein paar Fernsehprogramme mehr, und es ist perfekt.
Steen sagt, mit ihrer Jagd werde es bald vorbei sein. Sie müssten umdenken.
Gedion sagt, er denke nicht an morgen. Morgen ist immaqa, „vielleicht“.
Steen sagt, „ich bin Jäger, genau wie ihr“. Doch diesen Satz, der seinen Vortrag einleitet und all die Worte, die folgen, kann er Gedion nicht ins Gesicht sagen. Gedion ist nicht in die Gemeindehalle gekommen. Kurz nachdem er in Qaanaaq zurück war, ist er wieder aufgebrochen. Er jagt.

"Die Jagd erhält die Art"

Drei Jäger sind erschienen und drei Frauen. Steen steht vorne am Videobeamer und erklärt, welche Stücke vom Eisbären in die Plastikbeutel sollen, die er mitgebracht hat. Dafür verspricht er den Jägern 400 Euro je Kollekte. Acht Eisbären im Jahr dürfen die Jäger von Qaanaaq schießen. Das sei eine Verlegenheitsquote. Weil genaue Zahlen fehlten, müssten die Forscher auf Nummer sicher gehen und einen pessimistischen Wert ansetzen. „Wenn wir eine bessere Bestandsaufnahme haben, dann bekommen wir sehr wahrscheinlich eine höhere Quote. Und wenn wir die haben, können wir einen Schritt weitergehen, dann können wir nach Afrika schauen.“

Er möchte jetzt zum Jagdtourismus überleiten, zu den Geldquellen, die Qaanaaq retten würden in der kalten Marktwirtschaft, doch ein Jäger meldet sich zu Wort: „400 Euro bekomme ich von der Souvenirboutique in Qaanaaq ja allein für den Schädel. Dann sind 400 Euro für die ganzen Proben ein bisschen wenig.“
Steen sagt, „in Ordnung, darüber können wir reden“.
Eine Frau wirft ein, „der Eisbär ist ja fast ausgerottet“.
„Nein“, sagt Steen händehebend, „auf der ganzen Welt gibt es 22 000 bis 40 000 Tiere. Manche Forscher sagen dies, andere das. Allerdings bekommen die Forscher, die sagen, der Eisbär stirbt, die Überschriften in den Zeitungen. Ich glaube nicht, dass der Eisbär sterben wird, wenn wir unseren Kopf und unsere Vernunft gebrauchen.“
Eine andere Frau meint, „die Forscher erklären immer: kein Eis, kein Bär. Aber wenn man sich umschaut, wo es warm ist, wo kein Eis ist, in den Zoos in Dänemark, wen sieht man da? Eisbären.“
Steen: „Wir werden auch weiterhin Eisbären haben, wenn ihr die Proben abgebt. Mit den Proben können wir beweisen, dass der Bestand höher ist, um eine höhere Quote zu bekommen. Dann können wir mehr jagen. Und dann können wir den Eisbären auch besser schützen. Denn die Jagd erhält die Art. Ich sage immer …“

"Es gibt viele Eisbären hier"

Ein Jäger meldet sich: „Man muss verstehen, dass Eisbärenhosen zu unserer Kultur gehören.“
Steen: „Sicher. Und es gibt mehr Eisbären, als wir denken. Aber wild losballern dürfen wir deshalb nicht. Wenn wir zu viele schießen, ist bald keiner mehr da. Das ist wie mit den Schlittenhunden. Wenn wir einen nach dem anderen erschießen, dann bleiben wir irgendwann mit dem Schlitten stehen.“
Der Jäger: „Ich möchte aber gerne Eisbärenhosen haben.“
Steen: „Das sollt ihr auch, ich sage ja selbst, die Quote ist zu niedrig. Es gibt keinen, der die Jagd komplett stoppen will.“
Der Jäger, Arme vor der Brust verschränkt: „Du sollst nicht mit so einem Beispiel kommen wie mit den Schlittenhunden. Es gibt viele Eisbären hier.“
Sein Nachbar: „Ich habe euch mal eine Leber nach Kopenhagen geschickt, von einer Robbe, die ich gefangen hatte, die Leber sah schlecht aus. Aber ihr aus Dänemark, ihr sagt nie, was Sache ist. Ich habe nie eine Antwort bekommen.“
Steen: „Ich will nachforschen, was da passiert ist.“
Ein Jäger: „Es gibt Tausende Flüge am Tag über unsere Köpfe – was sagst du dazu? Die ganzen Partikel regnen auf uns und lassen das Eis schmelzen. Tötet das nicht die Eisbären?“
Steen: „Die Flugzeuge sind hoch genug – was sie über unseren Köpfen rauslassen, fällt nicht in Grönland runter.“
Der Jäger: „Sage den Amerikanern und den Russen, sie sollen mit den Flügen aufhören.“
Und so weiter und so fort. Steen kommt nicht dazu, das afrikanische Modell zu erläutern. Er bleibt ein Jäger, den sie nicht verstehen.

Dimitri Ladischensky / mare / Seite 71 / Dezember 2009

http://www.kultiversum.de/Leben/Groenland-und-Daenemark.html?p=9